Leuchtfeuer Der Liebe
voller Glück und Lebensfreude.
Jesse verdrückte sich in eine Ecke und beobachtete die geröteten, lachenden Gesichter, die blitzenden Augen. Ein seltsames Sprachgemisch erfüllte den kleinen Raum, eine Kakophonie aus Russisch, Isländisch und einem breiten irischen Dialekt. Und plötzlich spürte er die Wärme eines Lächelns, das langsam in ihm aufstieg.
Es war so lange her, dass er zunächst gar nicht wusste, wie ihm geschah, als Heiterkeit in ihm aufkam. Mary löste sich aus dem Kreis der Tanzenden und trat zu ihm. „Sie sehen richtig freundlich aus, wenn Sie lächeln, Jesse Morgan."
Sein Gesicht verschloss sich wieder zur finsteren Maske.
Man tanzte, trank und lachte, bis der Likör und die Anstrengungen des Tages ihren Zoll forderten. Der junge Russe, der Mary den ganzen Abend mit schmachtenden Blicken angehimmelt hatte, rollte sich mit einer Decke auf dem Fußboden ein. Die anderen saßen um den Tisch herum, ihre Balladen wurden trauriger, ihre Zungen schwerer.
Jesse bemerkte, wie müde Mary aussah. Auf ihren bleichen Wangen traten die Sommersprossen deutlicher hervor. Sie verbarg ein Gähnen hinter der Hand. Verdammt, es hätte ihm gerade noch gefehlt, wenn sie einen Rückfall bekäme.
„Es wird Zeit zu gehen", sagte er und nahm seine Mütze vom Haken neben der Tür.
Mit schlurfenden Schritten holte Mary ihren Mantel und trat zu ihm. Dimitri hob sein Glas ein letztes Mal. „Sie gesegneter Mann, Jess Morgan", sagte er. „Wunderbare Frau! Schön wie Mond und Sonne." Er zwinkerte ihm zu. „Und bald Kind. Wird sein kräftiger Sohn für Familienehre."
Jesse griff nach der Türklinke. Er spürte, wie seine Ohren glühten. „Ich bin nicht ..., das heißt, sie ist nicht ... wir ..."
„Gute Nacht allerseits", rief Mary fröhlich in die Runde, nahm die Laterne in die Hand und schubste Jesse in die Nacht hinaus. „Alles Gute und Gottes Segen für euch alle."
„Gute Nacht!" riefen die Russen im Chor. Und während Mary und Jesse sich auf den Heimweg machten, verklangen ihre Stimmen in der Nacht.
„Nun regen Sie sich nicht gleich wieder auf", sagte Mary trotzig, als er sie finster anfunkelte. „Was hätten Sie lange erklären wollen? Es macht doch nichts, wenn die Russen denken, wir seien Mann und Frau."
„Hm!" Sie hatte zwar Recht, aber das wollte er auf keinen Fall zugeben.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, horchten auf das Tosen der Brandung in der Ferne und das Rauschen des Windes in den Bäumen. Der Duft nach frischem Tannengrün erfüllte die Luft. Mary ging unbeholfen in ihren geborgten Gummistiefeln, und als sie stolperte, fing Jesse sie auf.
Sie lehnte sich kurz gegen seine Brust. „Danke."
„Ich wollte nicht, dass Sie die Laterne fallen lassen", sagte er, hielt aber seinen Arm länger als nötig um ihre Mitte. Vielleicht war sie absichtlich gestolpert, vielleicht spielte sie plötzlich die
Hilflose, was ihn seltsamerweise gar nicht störte. Er atmete den Duft ihres Haares ein, spürte ihre Nähe, ihre Wärme, ihre weichen Formen. Himmel, fühlte sie sich gut an. Zu gut.
Er nahm ihr die Laterne aus der Hand und schob Mary von sich. „Passen Sie auf", sagte er. „Der Weg ist steinig."
„Ich passe schon auf." Ihre Hand schlüpfte in den Mantel, und er stellte sich vor, wie sie den Arm schützend um ihr ungeborenes Kind legte. Es war nicht nur ihr Kind.
Jesse spürte einen schmerzhaften Stich. War sie eine Frau, die sich an Fremde verkaufte? Oder hatte ihr etwa ein Mann Gewalt angetan?
Er verdrängte die Vorstellung. „Wieso sprechen Sie nie vom Vater Ihres Kindes?"
Sie ging weiter, als habe sie ihn nicht gehört, und schwieg, bis sie an der Veranda des Blockhauses angekommen waren. Er stellte die Laterne ab. Sie legte die Hände auf das Geländer und blickte zum Himmel hinauf. Alle fünf Sekunden streifte der Lichtschein des Leuchtfeuers von Cape Disappointment wie ein bleicher Mondstrahl über die Landschaft.
„Er bedeutet mir nichts", sagte sie schließlich. „Er war nur ein schrecklich dummer Fehler in meinem Leben."
Jesse spürte, dass sie log. Der mysteriöse Mann bedeutete ihr noch immer etwas. Das Bild der nackten Mary in der Zinkwanne schoss ihm durch den Sinn. Ein Bild von erschreckender Deutlichkeit, das ihn zwang, sie nicht nur als Opfer eines Schiffbruchs zu sehen, sondern als Frau, die Leidenschaft und Lust und möglicherweise sogar Liebe wecken konnte.
Nein, nicht bei ihm. Mary Dare war dafür geschaffen, geliebt zu werden, daran hatte er
Weitere Kostenlose Bücher