Leuchtfeuer Der Liebe
angebracht", meldete sich eine Stimme aus dem Schatten, „mir zu sagen, wovor Sie weggelaufen sind."
Mit einem Aufschrei sprang Mary hoch. „Jesse! Sie haben mich erschreckt."
Er trat aus dem Schatten eines Baumes. Zunächst konnte sie nur die Umrisse seiner breiten Schultern erkennen. Als er die Stufen zur Veranda heraufkam, sah sie, dass er etwas in beiden Händen trug.
„Wo waren Sie den ganzen Tag?" fragte sie befangen. Es hatte nicht in ihrer Absicht gelegen, dass er ihren lauten Stoßseufzer belauschte.
Er hörte nicht auf ihre Frage, stellte das Mitbringsel ab und verschwand hinter dem Haus. Sie hörte das Quietschen der Pumpe, dann kam er mit einem Eimer und einer Wurzelbürste zurück. Vor dem Küchenfenster blieb er stehen und schnupperte. „Riecht köstlich. Was haben Sie gekocht?"
„Es gibt gebratenen Lachs und Kartoffeln."
„Wo haben Sie kochen gelernt?"
„Ich bin die Tochter eines Fischers." Sie hätte ihm so viel erzählen können, von den vergnügt funkelnden Augen ihres Pas, der immer ein paar hübsche Muschelschalen für sie in der Tasche hatte. Sie hätte ihm von ihren lärmenden Brüdern erzählen können, von der blitzblanken Küche ihrer Mutter in der Kate in County Kerry und noch vieles mehr. Doch damit musste sie bis zu einem späteren Zeitpunkt warten.
„Atlantischer Lachs unterscheidet sich im Geschmack kaum von dem im Pazifik." Sie betrachtete den Sack zu seinen Füßen. „Was ist das?"
„Das wurde heute an Land gespült." Er bückte sich und holte eine schleimige Masse Tang aus dem Jutesack.
Mary setzte sich auf die Verandastufen und schlang die Arme um ihre hochgezogenen Knie. Mit seinem Taschenmesser entfernte er die glitschigen Algen und säbelte an einem Netz vollgesogener Schnüre, unter dem sich ein runder Gegenstand verbarg. Er befreite ihn, tauchte seinen Fund in den Wassereimer und begann ihn mit der Wurzelbürste abzuschrubben. Mary sah ihm schweigend dabei zu. Sie sah ihm gerne zu. Die Bewegungen seiner kraftvollen Arme und Schultern wirkten beruhigend auf sie, gaben ihr ein Gefühl der Geborgenheit.
„Wollen Sie mir nicht sagen, was das ist?" Sie platzte beinahe vor Ungeduld.
„Gleich." Schließlich holte er das Ding aus dem Eimer.
Mary entfuhr ein spitzer Laut des Erstaunens. Er hielt eine Kugel aus aquamarinblauem Glas hoch, groß wie ein Kohlkopf, die im schwindenden Sonnenlicht erglühte wie ein beleuchtetes Kirchenfenster. Für Mary sah sie aus wie ein kostbares Juwel.
„Ein Glasschwimmer", erklärte Jesse. „Japanische Fischer benutzen sie, um ihre Netze zu markieren. Gelegentlich treibt die Strömung diese Kugeln über den Ozean zu uns herüber."
Sie ließ ihre flache Hand über die Rundung der Glaskugel gleiten. Winzige Luftblasen waren auf alle Ewigkeit im Glas eingeschlossen. „Sie haben den ganzen Tag damit zugebracht, die Kugel zu suchen."
Er leerte den Eimer über das Geländer ins Gras, stellte ihn umgedreht in die schrägen Sonnenstrahlen und legte die Kugel darauf. Das Licht drang durch das aquamarinblaue Glas und malte regenbogenfarbene Lichtkringel auf die Hauswand dahinter.
„Sie gehört Ihnen", sagte er.
Er hatte so leise gesprochen, dass sie nicht wusste, ob sie richtig gehört hatte. „Für mich? Ein Geschenk?"
„Ich sagte, sie gehört Ihnen." Seine Stimme klang wieder schroff.
Mary sah zu ihm auf und fragte sich, was, in aller Welt, ihn dazu veranlasst hatte, ihr ein Geschenk zu machen.
„Es ist nur Treibgut", erklärte er mürrisch, bedauerte offensichtlich seine freundschaftliche Geste schon wieder.
Eine merkwürdige Empfindung stieg in ihr hoch, wie eine Welle, die sich weit draußen im Meer sammelte und mit stetig steigender Kraft ans Ufer rollte. Sie hatte nicht gewusst, dass sie noch fähig wäre, ein solches unbändiges, überschwängliches Glücksgefühl zu empfinden. Und am allerwenigsten hätte sie geglaubt, dass Jesse Morgan ein solches Gefühl in ihr auslösen könnte.
Dieses Glücksgefühl spiegelte sich in ihrem Gesicht wider. Sie spürte, wie ihr Lächeln sich formte, spürte sogar, wie ihre Augen strahlten, als sie ihn ansah. „So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen."
Er zog einen Mundwinkel hoch. Und einen atemlosen Moment lang glaubte sie, er würde lächeln. Dann verblüffte er sie wieder. Er fuhr mit einem Finger über ihre Wange. Sein Gesicht und seine Augen blieben dabei völlig ernst. „Nicht alles, was als Treibgut an den Strand gespült wird, ist beschädigt."
Das Glücksgefühl
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