Leuchtfeuer Der Liebe
den Arm um Mamas Mitte gelegt, Rory mit seinem Dudelsack, den er stets mit sich herumschleppte, Ali und Paddy, die sich im Gras balgten.
„Es war letztes Jahr. Pa und die Jungs sind zum Fischen hinausgefahren und nicht zurückgekommen. Mama hat den ganzen Tag auf sie gewartet. Sie stand an den Klippen im Regen und blickte aufs Meer hinaus. Stundenlang. Ich versuchte sie zu überreden, mit mir nach Hause zu kommen. Aber sie stand da, nass bis auf die Knochen, und blickte aufs Meer hinaus." Mary erinnerte sich genau an den Blick ihrer Mutter, als sie schließlich aufgab und sich auf den Heimweg machte. Ihre Augen waren tot. „Ein paar Tage später bekam sie Fieber und blieb im Bett. Ihre Lungen füllten sich mit Wasser, und dann starb sie."
„Grundgütiger", sagte Jesse noch einmal. „Und das sagen Sie mir erst jetzt."
„Ich dachte nicht, dass Sie das interessiert." Wieder war ihr die Kehle wie zugeschnürt. Wie rührselig sie in letzter Zeit war!
„Wie können Sie das ertragen?" fragte er heiser.
„Darum geht es nicht", antwortete sie. „Sie sind nun mal nicht mehr da. So ist das Leben. Wie die Rosen im Herbst welken und ihre Blätter verlieren. Wie die Sonne am Abend untergeht. Ich kann nichts daran ändern. Ich kann den Lauf der Welt nicht aufhalten." Sie legte die Hand an ihren Busen. „Aber sie leben in mir weiter. Hier in meinem Herzen."
Jesse sah sie so verblüfft an, dass sie lächeln musste. Es tat gut, zu lächeln, es war heilsam und wohltuend.
„Sie haben Ihre ganze Familie verloren", sagte Jesse fassungslos. „Wie können Sie da noch lächeln?"
„Sie würden es nicht anders wollen. Sie würden nicht wollen, dass ich den Rest meines Lebens traurig bin. Sie würden sich wünschen, dass ich liebevoll an sie denke, dass ich mich an die glücklichen Zeiten erinnere, nicht den Kopf hängen lasse und die Freude am Leben nicht verliere."
„Woher wollen Sie wissen, was Ihre Familie sich gewünscht hätte."
„Ich weiß es einfach", antwortete sie schlicht. „Und Sie wüssten es auch, wenn Sie es nur zuließen."
„Ersparen Sie mir solche Binsenweisheiten", entgegnete er bitter. „Darauf falle ich nicht herein."
„Nur weil Sie so überlegen sind? So gebildet und belesen?"
„Weil ich nicht wie ein Traumtänzer durchs Leben gehe."
Sie streckte ihm den Fuß wieder hin, damit er den Stiefel fertig zuknöpfen konnte. „Das sollten Sie aber versuchen."
Jesse hatte nie sonderlich auf die Landschaft geachtet, wenn er die zwanzig Meilen an der Long-Beach-Halbinsel nach Oysterville gefahren war. Die Straße führte durch flaches Land, an schilfbewachsenen Dünen, Ginstergestrüpp und vereinzelten Siedlungen vorbei. Hie und da drehte sich ein Windrad, es gab Felder mit roten Moosbeeren, nichts Außergewöhnliches, nur karges, unfruchtbares Marschland.
Doch in Begleitung von Mary Dare wurde diese Fahrt zum Erlebnis. Für sie war das Leben anscheinend eine ständige Abfolge kleiner Wunder. Ein altes Haus mit moosbewachsenen grauen
Schindeln gab ihr den Grund, sich weit aus dem Wagen zu beugen und den Kindern zuzuwinken, die im Vorgarten spielten. Ein Bär, der im seichten Brackwasser Krebse fischte, entlockte ihr spitze Laute des Entzückens, gepaart mit Angst. Als sie einen Strauch mit lachsfarbenen Brombeeren entdeckte, die nur in dieser Region gediehen, bestand sie darauf, anzuhalten und sie zu pflücken, um sie Palina und Magnus zu bringen, die zu Hause geblieben waren, um das Leuchtfeuer zu bewachen. Als Behälter diente ihr der neue Hut, den Hestia ihr in der Stadt gekauft hatte.
Der Anblick eines Seeadlers, der sich aus großer Höhe senkrecht herabstürzte und mit langen Klauen einen zappelnden Fisch aus dem Wasser zog, rührte Mary beinahe zu Tränen, so sehr war sie von der Schönheit und Seltenheit des Naturschauspiels gefangen. Sogar Nahcotta, ein unscheinbarer Ort, in dem es nach Fischabfällen stank, faszinierte sie.
Mit glänzenden Augen ließ sie den Blick über die weite Shoalwater Bay schweifen. „Sehen Sie nur all diese Schiffe", rief sie begeistert.
„Austernboote", sagte Jesse. Die Segelflotte war mit roten, weißen und blauen Wimpeln festlich geschmückt. Die eleganten Zweimaster jagten schnell dahin, ihre Segel blähten sich wie Vogelschwingen im Wind. Es hatte eine Zeit gegeben, als er auf seiner Yacht hart am Wind gesegelt war mit dem herrlichen Gefühl, über die Wellen zu fliegen. Auch damit war es nach Emilys Tod vorbei. Alles hatte sich mit ihrem Tod
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