Leuchtfeuer Der Liebe
noch."
Sie bückte sich nach den Stiefeln. Die Mahoney-Mädchen würden vor Neid erblassen. Das Leder war weich wie Samt und wurden seitlich mit schwarz funkelnden, winzigen Knöpfen geschlossen.
Emily Leighton Morgan war eine vornehme Dame und gewiss sehr reich gewesen. Ihre Kleider waren aus kostbaren Stoffen.
Aber wenn sie so reich war, wieso lebte dann Jesse hier am Ende der Welt wie ein Mönch in Armut und Einfachheit in einem Leuchtturm? Hatte er alles zurückgelassen in seinem furchtbaren Kummer?
Sie streifte die Seidenstrümpfe über, die Hestia Swann für sie gekauft hatte, zog einen Stiefel an und dann den zweiten. Die Knöpfe waren winzige geschliffene Kugeln aus schwarzem Onyx. Nachdem sie sich eine Weile vergeblich bemüht hatte, einen Knopf durch die winzige Öse zu zwängen, begann sie zu begreifen, warum nur reiche Damen solchen Schnickschnack trugen. Wer, um Himmels willen, konnte diese Dinger ohne fremde Hilfe zuknöpfen?
Nachdem sie noch einmal vergeblich daran genestelt hatte, seufzte sie entnervt und ging in die Wohnstube. „Jesse ..."
Er fuhr ungeduldig zu ihr herum. „Mary ..."
Beide hatten gleichzeitig gesprochen, hielten jäh inne und blickten einander verlegen an.
Er sah aus wie der Märchenprinz aus einem Jungmädchentraum. Im schwarzen Gehrock, in schwarzer Weste und einem gestärkten weißen Hemd mit schimmernder Seidenkrawatte war er eine blendende, vornehme Erscheinung.
„Sie sehen fabelhaft aus", sagte sie schließlich.
Ihr Kompliment machte keinerlei Eindruck auf ihn. „Sie sind hübsch", meinte er gleichmütig. Er brach zwar nicht in Begeisterungsstürme über ihr Aussehen aus, doch gegen seine sonstige Einsilbigkeit kamen seine Worte einem überschwänglichen Kompliment gleich.
„Vielen Dank." Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, als sie den Saum ihres Kleides ein wenig anhob. „Ich fürchte, ich bin zu ungeschickt, um diese Stiefel zuzuknöpfen." Sie überwand ihre Befangenheit, setzte sich und streckte einen Fuß vor. „Können Sie mir helfen?"
„Nein", antwortete er schroff und zog in einer Geste der Verlegenheit die Schultern hoch. „Es genügt, wenn Sie ein paar Knöpfe zumachen, damit Sie die Stiefel nicht verlieren."
„Ich habe es versucht und bekomme leider keinen einzigen Knopf zu."
Seine Verlegenheit schlug in Unmut um. „Dann gehen Sie eben in Gummistiefeln."
Mary schnaufte verächtlich. „Wie sieht das denn aus? Wollen Sie sich wirklich in Begleitung einer Frau zeigen, die daher- stampft wie eine irische Bauernmagd?"
Sie blickte ihm standhaft in die Augen, obwohl sie am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen und losgeheult hätte. Begriff er nicht, wie viel ihr dieser Tag bedeutete? Sie würde Leute kennen lernen, die sich ein Urteil über sie bilden, die sich vielleicht mit ihr anfreunden würden. Begriff er denn nicht, wie wichtig das für sie war?
Sie sahen einander unverwandt an. Nein, er konnte das nicht verstehen. Jesse Morgan, der Einsiedler vom Leuchtturm, der die Öffentlichkeit scheute, begriff nicht, weshalb sich jemand nach Menschen sehnte, nach Freunden.
„Ich wollte mich hübsch machen", sagte sie in das lastende Schweigen hinein.
„Sie sehen doch hübsch aus", entgegnete er mürrisch. „Habe ich das nicht gerade gesagt?"
Um ihre Mundwinkel zuckte es. „Ich bin beinahe in Ohnmacht gefallen vor Freude." Energisch stampfte sie mit dem Fuß auf. „Ich versuche, Ihnen etwas zu erklären. Sie sprechen zwar kaum von Ihrer Vergangenheit, aber mir ist mittlerweile klar, dass Sie niemals Not leiden mussten. Sie sind gebildet, können lesen und schreiben und reden wie ein feiner Herr. Vermutlich haben Sie festgestellt, dass mir das alles fehlt."
Er nickte und kniff die Augen zusammen. „Und weiter?"
Sie fühlte sich ein wenig ermutigt. Zum ersten Mal schien er seine ablehnende Haltung zu vergessen und eine Spur Teilnahme an ihrer Situation zu zeigen.
„Ich war dreizehn", fuhr sie fort, „als ich zum ersten Mal in meinem Leben Schuhe an den Füßen hatte."
Mary beobachtete eine merkwürdige Veränderung in seinem
Gesichtsausdruck. Er, der im Überfluss aufgewachsen war, hatte keine Ahnung, in welcher Armut sie und ihre Familie in Irland gelebt hatten.
„Warten Sie", sagte er und verschwand in der Küche. Sie hörte, wie er in einer Schublade kramte, dann kam er mit einem Stiefelknöpfer zurück. „Strecken Sie den Fuß aus", befahl er.
Sie zog den Rock und den gerüschten Unterrock ein wenig hoch und
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