Leute, das Leben ist wild
Schlüssel, der mithilfe eines roten Geschenkbandes an eine Karte geknotet wurde. Ich nehme den rätselhaften Schlüssel mit der Karte heraus. Darauf hat Mama Folgendes geschrieben:
Mein liebes kätzchen, nun bist du schon 17 Jahre alt. Ich finde, alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen. darum nimm diesen Schlüssel als Zeichen, dass es für mich total in Ordnung ist, wenn du ausziehst. In Liebe, deine Mama.
Ich sehe meine Mutter fragend an. »Was ist das?«
Sie lächelt und streicht aufgeregt mit den Händen über ihre neuerdings ziemlich durchtrainierten Oberschenkel. »Der Schlüssel zu deinem WG-Zimmer.«
Papa räuspert sich hinter mir, und ich zwinkere mit den Augenlidern, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. »Der Schlüssel zu meinem neuen WG-Zimmer?«
Mama zeigt ihre Zähne, soll wohl ein Lächeln sein, und zieht gleichzeitig die Augenbrauen hoch. Will sie mich dadurch animieren, dass ich jetzt vor Freude vom Sessel aufspringe?
Alina guckt ganz unsicher und Arthur murmelt: »Sieht so aus, als hättest du jetzt eine eigenen Wohnung.«
Mama nickt begeistert in die Runde. »Was sagst du dazu? Ich hab dir ein süßes Zimmer in einer WG gesucht, mit kleinem Balkon zum Bepflanzen.«
Okay, Leute. Gerade habe ich das Gefühl, ich muss ganz dringend aufs Klo. »Danke, echt klasse.«
Vorsichtig lasse ich den Schlüssel zurück in den Umschlag gleiten und renne rüber ins Gästeklo. Das also bin ich da im angestrahlten Spiegel. Lelle, 17 Jahre alt, mit blonden Locken, Sommersprossen, grünen Augen und neuerdings einem eigenen WG-Zimmer mit kleinem Balkon zum Bepflanzen. Ich starre mich an, so, als würde ich hoffen, dass dieses Mädchen da im Spiegel endlich Kontakt mit mir aufnimmt und mir sagt, wie es ihm geht. Ich winke mir zu. »Gratuliere!« Bitte nicht weinen!
In der Schule hocke ich neben Alina und raspele mithilfe meiner Bastelschere Krümel von meinem Radiergummi ab, die ich dann mit dem Geodreieck über mein aufgeklapptes Heft schiebe. Wir haben gerade Englisch. Eigentlich ist das mein Lieblingsfach, obwohl ich die Sprache noch immer kaum beherrsche und echte Schwierigkeiten mit dem »th« habe. Das macht aber nichts, unsere Lehrerin Frau Hartwig benotet sowieso nur, dass man sich überhaupt zu Wort meldet. Dennoch muss ich heute alles tun, um mich irgendwie halbwegs konzentrieren zu können. Und trotzdem klappt es nicht.
Ich packe das klein geraspelte Radiergummi und die Schere weg und gucke nach vorne, damit es wenigstens den Eindruck macht, als sei ich voll dabei. Frau Hartwig sollte endlich mal was mit ihren Haaren machen. So wie sie aussieht, mögen die Schüler sie nicht. Sie hat dieses strohige graue Haar, das sie sich wie zwei Büschel hinter die Ohren schiebt, und dazu eine ziemlich auffällige Nase. Diese beiden ungünstigen Komponenten lassen sie ein bisschen wie ein Kräuterweiblein aussehen, dazu kommt noch, dass sie ein ziemlich langes Kinn hat und auch noch sehr streng ist. Ich mag das ja, da schafft man wenigstens was weg. Aber die meisten Kursteilnehmer regen sich darüber auf, dass uns Frau Hartwig weder die Grammatik noch Vokabeln beibringt, sondern lieber mit uns Kurzgeschichten analysiert - das ist mein Feld, das mag ich, das kann ich. Ohne mich in den Vordergrund drängen zu wollen: Ich bin die Einzige, die sich am Unterricht beteiligt, die anderen boykottieren sämtliche von Frau Hartwigs Versuchen, interpretatorisch tätig zu werden. Aus meinen Mitschülern wird nichts, das kann ich gleich sagen. Wer so wenig Interesse am Menschsein hat,
ist innerlich selbst ganz leer. Der wird sich und die anderen um sich herum nie verstehen, wird nie vergeben und verzeihen können.
Manchmal könnte ich über die Dummheit der Menschen verzweifeln. Gerade allerdings habe ich dazu keine Gelegenheit, weil ich mich total und unvorbereitet von meiner Mutter verstoßen fühle. Ich vermute, dass sie es gut mit mir meint. Wahrscheinlich denkt sie, dass ich jetzt total autonom leben und handeln sollte, damit ich mich zu einem selbstständigen Wesen entwickle und auf diese Weise lerne, meine Grenzen selbst zu ziehen. Aber doch nicht so plötzlich, von 0 auf 100! Als Alina und ich vorhin auf unsere Räder gestiegen sind, sagte sie noch: »Papa und ich sind nur dein Abflughafen, fliegen musst du selbst. Wenn wir dich aber festhalten, wirst du abstürzen oder noch schlimmer: niemals abheben.«
Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, was schlimmer ist: nicht abzuheben oder abzustürzen. Ich
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