Leute, das Leben ist wild
gucke angestrengt nach vorne zu Frau Hartwig, die jetzt mit einem Zettelstapel durch den Klassenraum geht, jedem von uns ein paar zusammengetackerte Blätter vorlegt und erklärt, dass wir nun eine Shortstory von Patricia Highsmith lesen. Automatisch stöhnen alle rum und fläzen sich genervt über ihre Tischplatten. Schließlich kommt Frau Hartwig an meinem Platz vorbei und zwinkert mir verschwörerisch zu. Die Blätter rutschen mit einem leichten Luftzug in meine Richtung, und Alina lässt ihren Kopf kurz runter auf ihr Federetui sinken, sodass ihr schwarzer Pferdeschwanz über meinen Unterarm streift.
Sie flüstert: »Ich bin so müde.«
Ich flüstere zurück: »Hast du nicht gut geschlafen?«
»Nein, wie auch? Albert hat ja alle halbe Stunde angerufen,
um mir zu sagen, wie sehr er mich vermisst und dass ich die Frau seiner schlaflosen Nächte bin, aber nicht so viel Alkohol trinken soll. Er meint, ich sei Alkoholikerin.«
»Hä? Du?« Das kann ich jetzt gar nicht verstehen. Meines Wissens trinkt Alina so gut wie nie Alkohol. Höchstens mal einen Alkopop. »Hast du dich auf der Tour die ganze Zeit volllaufen lassen oder was?«
Alina dreht ihren Kopf, sodass ich jetzt ihr müdes Gesicht sehen kann, umrahmt von ihren weißen Armen, die auf der Tischplatte liegen. Um ihr Handgelenk hat sie sich ein Nietenarmband geschlungen und die Fingernägel hat sie grau lackiert. »Nö. Nur am letzten Abend habe ich einen Gin Tonic getrunken, aber Albert trinkt gar keinen Alkohol und irgendwie hat er sich da ein bisschen in was reingesteigert.«
Keine Ahnung, was bedenklicher ist: der eine Gin Tonic oder dieser Albert, der sich ständig in irgendwas reinzusteigern scheint.
Frau Hartwig ist mit dem Verteilen der Zettel fertig und ruft von vorne: »Alina, are you already asleep? Do you need a pillow?«
Alinas Kopf schießt hochrot nach oben. Sie mag es gar nicht, wenn sich die Aufmerksamkeit auf sie richtet. Sie schluckt und in dem Moment höre ich wieder dieses leise Surren in ihrer Minirocktasche. Leute, ich kann mir schon denken, wer das ist.
In der Pause latschen Alina und ich um den von Mücken besiedelten Entenweiher, der ein Stück von unserem Pausenhof entfernt in so einer Art Naturschutzgebiet liegt. Dann werden wir eben zerstochen, ist jetzt auch egal.
Wir haben definitiv andere Probleme. Außerdem rauchen wir Kette, da trauen sich die Moskitos nicht an uns ran. Wir streifen durch das hohe Gras, am Ufer entlang. Ein Frosch hüpft vor unseren schlurfenden Schritten ins Schilf und der Himmel spannt sich sattblau und wolkenlos über uns wie eine Kuppel aus strahlendem Stahl. In den Baumkronen flattert es und die Grillen zirpen. Draußen auf dem Feld kurvt ein roter Trecker durch den gelblichen Staub und zieht einen Anhänger hinter sich her, vermutlich mit einem Haufen Zuckerrüben drin. Alina lässt sich auf der einzigen Bank nieder, wo sich offenbar kurz zuvor irgendwelche Idioten mit ihren matschigen Sneakers auf die Lehne gehockt und ihre Füße auf die Sitzfläche gepackt haben. Also machen Alina und ich es genauso, damit unsere Jeans hinten nicht von dem getrockneten Lehm ganz dreckig werden.
Alina öffnet ihren Pferdeschwanz, schüttelt ihre dünnen Haare durch und macht sich einen neuen Pferdeschwanz. Sie murmelt: »Lelle, ich will nicht, dass Albert kommt. Und auch nicht seine beschissene Freundin. Die haben beide voll einen an der Waffel. Ich glaub, ich bin da in was echt Ungutes hineingeraten.«
Unter uns: Da könnte Alina so was von recht haben. Also verspreche ich ihr: »Wir lassen die beiden einfach nicht rein.«
Alina versucht ein Lächeln, ich kicke sie mit der Schulter an. »Was sagst du eigentlich zu meinem WG-Zimmer?«
Alina beißt sich auf die Innenseite ihrer Wange, als würde sie sich echt was Kniffeliges überlegen müssen. »Keine Ahnung. Wie findest du es?«
Mit der Schuhspitze schiebe ich einen kleinen Stein
von der Sitzfläche der Bank und hebe den Kopf. »Keine Ahnung.« Weit hinter den Baumwipfeln steht das Chemiewerk mit den zwei Schornsteinen, das laut Arthurs Tümpelproben unser Grundwasser vergiftet. »Irgendwie fühle ich mich so ein bisschen abgeschoben, als wäre jetzt die Kindheit zu Ende.«
»Ich weiß genau, was du meinst.« Alina zündet sich eine neue Zigarette an, bläst zögerlich den Rauch aus und hält mir ihre Packung hin.
Ich schüttele den Kopf. »Seit heute Morgen habe ich diese Bilder im Kopf, wie ich früher auf dem Schoß meiner Mutter saß oder mit
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