Leute, das Leben ist wild
meiner Schwester im Sandkasten gespielt habe oder wie diese kleinen roten Spinnenbabys in den Ritzen der Mauer verschwunden sind. Ich höre mich atmen und sehe meine winzigen Sandalen mit den rosa Lackblümchen und meine kleinen Hände, und es ist so, als sei das alles gar nicht lange her. Irgendwie habe ich voll Schiss, was jetzt kommt. Und außerdem segelt Arthur nächste Woche mit seinem komischen Plastikflaschen-Boot los und kommt womöglich nicht wieder, weil er im Sturm kentert. Vielleicht fühle ich mich gerade ein bisschen allein.«
Alina nickt und murmelt: »Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.«
Jetzt zünde ich mir doch eine neue Zigarette an und in meiner Brust klumpt sich alles zusammen. Wieder versuche ich mir irgendwie eine klare Vorstellung davon zu machen, wie es heute Abend sein wird, wenn Johannes kommt und auf Arthur trifft, ohne dass Arthur weiß, dass es Johannes ist. Er wird ihm lächelnd die Hand geben. Und dann, durch irgendeinen dummen Zufall, wird der ganze Schwindel ans Licht kommen. Früher, als ich klein
war, hätte ich nie so eine unmoralische Nummer gebracht. Nie hätte ich so unaufrichtig und egoistisch sein können. Ich hätte viel zu viel Sorge gehabt, dass ich ungerecht bin oder jemanden verletze. Diese Furcht habe ich noch immer. Aber ich sitze starr auf meinem Floß und rase auf den alles verschlingenden Wasserfall zu. Er kommt immer näher, ich höre ihn rauschen und tosen und brüllen. Und Leute, hier stehe ich auf dem wackligen Floß und sehe meinem Unglück entgegen. So, wie Arthur bald auf seinem Plastikflaschen-Katamaran steht und dem größten, schwimmenden Müllberg entgegensieht, der sich mächtig und bedrohlich vor ihm auftürmt. Vielleicht gehört das zur Jugend dazu: sich aufs offene Meer, ins Ungewisse zu begeben.
Im Übrigen habe ich Johannes gestern gar nicht mehr erreicht und er hat es bei mir auch nicht noch mal versucht. Ich weiß nicht, was er wollte, ob er seine Freundin mitbringt und wann er kommt. Und ich weiß nicht, was mir lieber ist: wenn er seine Freundin mitbringt oder nicht. Die Ungewissheit legt sich wie ein Mantel aus klebrigem Spinnennetz um mich, es ist, als könnte ich mich nicht mehr rühren, nicht mehr klar denken, als wäre ich mir selbst ausgeliefert. Vermutlich ist es genau so. Ich bin mir ausgeliefert.
In Alinas Jeansrocktasche vibriert es schon wieder. Wir sehen uns an. Ganz lange. Dabei blasen wir den Rauch in die drückende Hitze des Vormittages. Alina greift nach meiner Hand und flüstert: »Ich schwöre dir, Lelle. Ich bringe mich um, wenn dieser Albert mit seiner Freundin kommt und mir zu dicht auf die Pelle rückt. Ich will in Ruhe gelassen werden. Ich drehe durch. Wirklich! Ich kann für nichts garantieren. Leider.«
5
L elle, wo warst du?« Aufgeregt kommt uns meine Schwester durch den grün flirrenden Garten entgegengelaufen. Die Sonne, die durch die Baumkrone der Akazie bricht, malt kleine helle Kringel auf ihr gebräuntes, hübsches Gesicht. Ihre weiße Bluse ist halb aufgeknöpft, darunter trägt sie einen aufwändig bestickten bronzefarbenen BH.
Vermutlich hat sie gerade wieder ihre kleine Mimi gestillt. Meine Schwester stillt überall und zu jeder Gelegenheit, da kennt sie nichts. Sogar neulich im Café, als Mama und ich sie mit Mimi vom Foto-Shooting abgeholt haben. Cotsch will, wie sie sagt, verhindern, dass Mimi ein Trauma kriegt und ihr Urvertrauen zerstört wird, wenn ihr die Brust vorenthalten wird. Diese Sorge hat sie eins zu eins von Mama übernommen. Die hatte früher auch ständig Schiss, dass Cotsch und ich ein Trauma kriegen, wenn sie nicht den lieben langen Tag um uns herumtüddelt. Mich wundert echt, dass wir nicht bis heute von ihr gesäugt werden. Und was bitte ist aus diesem Übermaß an Fürsorge resultiert? Meine Schwester und ich haben beide total einen an der Waffel, weil Mama uns einfach nicht in Ruhe lassen konnte. Ständig ist sie nachts noch mal in unsere Zimmer gerannt gekommen und hat uns aufgeweckt, nur um uns zu versichern, dass sie uns auch wirklich lieb hat. »Ich hab euch lieb!« Dadurch hat Mama
uns vermittelt, dass sie total abhängig von uns ist, weswegen wir nie gelernt haben, unsere Grenzen zu ziehen. Aus diesem Grund haben Cotsch und ich in der Pubertät schlimmste Zustände entwickelt: sie Aggressionen und ich lebensbedrohliche Autoaggressionen. Meine Schwester hat ihrer Wut ständig freien Lauf gelassen, um Mama irgendwie abzuschütteln. Ich bin lieber magersüchtig
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