Leute, das Leben ist wild
den Apfelbäumen hindurch zu ihrer weiß getünchten Villa sehen, an die Rita im letzten Jahr einen gigantischen Wintergarten gebaut hat. Die runden Buchsbäume auf ihrer Veranda sind ordentlich gestutzt. Die Bäume und Sträucher fliehen in der Geschwindigkeit aus dem Blickfeld, verwischen und verschwinden. Der Fluss ist schon zu hören, schäumend und wild. Über uns hämmert ein Specht. Dies ist meine Heimat. Ich renne, Arthur dreht sich nach mir um, nimmt mich fest bei der Hand und zieht mich weiter, den huckeligen Trampelpfad entlang. »Los! Schneller!«
Was ist, wenn wir zu spät kommen? Was werden wir sehen? Alina, die leblos im Fluss treibt, mit dem Gesicht unter der Wasseroberfläche, allein? Wie eine Puppe kreiselnd, von der Strömung weggerissen, gegen die hervorstehenden Steine geschleudert, mit blutendem Hinterkopf. Wo soll sie sonst sein, wenn nicht hier?
Da, wo das Flussufer steil bergab geht, wo sich das Wasser in schäumende Wirbel wirft, haben Alina und ich mal vergeblich versucht, einen Betrunkenen aus den Fluten zu retten. Hilflos mussten wir mit ansehen, wie er immer wieder unter Wasser gezogen wurde, weil die Strudel
zu stark waren. Zum Glück kam schließlich ein Angler von der Kuhweide herüber und hat uns geholfen, den entsetzten Mann wieder herauszuziehen. Seitdem wissen Alina und ich, wie stark dort die Strudel sind - und ich weiß, wie spillerig und lebensmüde Alina ist. Ich keuche: »Arthur! Was ist …?«
Er reagiert nicht, läuft einfach weiter. Wir ducken uns unter den tief hängenden Ästen hindurch, springen über hervorbrechende Wurzeln, die Todesbahn hinunter und wieder hinauf. Hier sind wir als Kinder wild und mutig mit unseren Fahrrädern rauf und runter gerast und fühlten uns doch unzerstörbar. Ich stolpere über einen abgebrochenen Ast, bleibe mit meinen Haaren in den Blättern und Zweigen hängen. Arthur reißt mich weiter. Meine Beine geben nach, da vorne wird es wieder heller. Der bläulich rote Abendhimmel bricht durch die wehenden Zweige, endlich erreichen wir das Ufer. Wir hören die Strudel schäumen.
»Vorsicht!« Arthur hebt seinen Arm, um zu verhindern, dass ich ins Wasser rutsche. Wir atmen tief durch, meine Lungen brennen. Auf Arthurs Stirn steht Schweiß, sein T-Shirt ist vorne durchgeschwitzt und klebt ihm an der Brust. Meine Zunge liegt schwer in meinem Mund, unruhig schweifen unsere Blicke über die Uferböschung, um irgendein Indiz zu finden, ob Alina hier war.
Ich strecke den Arm aus. »Da!«
Arthur sieht in die von mir angegebene Richtung. Neben dem abgesägten Baumstumpf, auf dem Alina und ich so oft gesessen und Zigaretten geraucht haben, stehen ordentlich ihre ausgelatschten, schwarzen Totenkopf-Vans. Daneben steht eine fast leere Flasche Wodka, die wir gestern bei Real gekauft haben. Typisch Alina. Es gibt kein ordentlicheres
Mädchen als sie. Auf dem Baumstumpf liegen noch ihre Armbanduhr und die Nietenarmbänder. Im vorletzten Sommer haben wir unsere Namen mit Papas Taschenmesser in die dicke Rinde geritzt. Arthur und ich arbeiten uns näher heran. Unser Blick geht hinüber zu den reißenden Wirbeln, wandert das Flussufer entlang, was nicht ganz leicht zu überblicken ist, da an einigen Stellen die Trauerweiden dicht bis zum Wasser stehen, deren herunterhängenden Äste die Sicht versperren. Außerdem sackt die Dämmerung immer tiefer auf uns herunter.
Arthur atmet schwer, seine Stimme klingt rau. »Da drüben.«
Ich beuge mich vor, kneife die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. Tatsächlich, in ungefähr hundert Meter Entfernung wankt eine dünne Gestalt, die Arme zu den Seiten weggestreckt, die Böschung hinunter, Richtung Wasser. Ich flüstere: »Soll ich sie rufen?«
»Warte.«
Arthur macht einige wacklige Schritte an der steilen Böschung entlang, auf Alina zu. Ganz vorsichtig, damit sie uns nicht bemerkt. Unter seinen Füßen bricht ein Ast. Ich halte die Luft an, hier an diesem Hang ist es schwierig, das Gleichgewicht zu halten. Überall drücken sich die Wurzeln hervor, der Untergrund ist weich und glitschig, man muss aufpassen, nicht abzurutschen. Und ich will niemanden, weder Alina noch Arthur, aus den Strudeln ziehen müssen, was sowieso ein hoffnungsloses Unterfangen wäre: Menschen, die ins Wasser gefallen sind und vollgesogene Kleidung tragen, sind so schwer wie Mehlsäcke und können unmöglich von einem Mädchen wie mir wieder an Land gezogen werden. Vor allen Dingen
nicht, wenn am anderen Ende
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