Leute, das Leben ist wild
seine Hand. »Wie geht’s?«
Jetzt könnte ich wieder die Hand heben und sagen: »Wie es einem so geht, wenn man den Selbstmord der besten Freundin hautnah miterleben durfte.« Aber ich lasse das mit dem albernen Handheben, sonst geht das immer so weiter und wir stehen heute Abend noch hier auf der Wiese vor der Schule rum und heben abwechselnd die Hände. Also hole ich nur tief Luft, stecke nun auch meine Hände in die Hosentaschen und sage mit fester Stimme: »Geht so. Und selbst?«
Und in dem Moment fällt mir auf, dass ich es gar nicht wissen will. Überhaupt nicht! Gar nicht! Papa soll bloß nicht einfallen, auf diese Frage zu antworten. Nichts will
ich über sein neues, blödes Leben wissen. Mir wird kalt und meine Kieferknochen malmen. Bitte, Papa soll nicht ins Detail gehen. Wenn es nach mir ginge, soll er einfach so tun, als hätte er in seiner Kanzlei gerade richtig viel um die Ohren.
Papa räuspert sich. »Nun ja, was soll ich sagen?«
Gar nichts! Bitte, bitte gar nichts! Ich zucke mit den Schultern. »Tja, ich weiß nicht. Ich meine, geht’s dir gut?«
Papa zuckt nun auch mit den Schultern und dann gehen wir nebeneinander den schmalen Trampelpfad in Richtung Fahrradschuppen runter. Zur stimmungsvollen Untermalung fängt es zögerlich an, zu regnen, aber das bekommen wir gar nicht richtig mit. Ich höre, wie Papa die Luft durch die Zähne einzieht, das macht er immer, wenn er angespannt ist. Anschließend räuspert er sich wieder. Offenbar weiß er nicht so richtig, wie er antworten soll. Nachdem er sich noch dreimal geräuspert hat, meint er: »Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, wie es mir geht. Ich bin ziemlich verwirrt und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keine Ahnung, ob das, was ich tue, richtig oder falsch ist. Ich erkenne mich gerade selbst nicht wieder. Ich dachte, vielleicht kannst du mir sagen, was ich machen soll.«
Ich bleibe stehen. »Hä?«
Papa zieht seine Augenbrauen hoch und wischt sich nervös mit der Hand über den Mund: »Ja, ja, ich weiß, das klingt ziemlich dumm. Aber du kennst dich doch so gut mit Menschen aus.«
Da hat Papa nun auch wieder recht - obwohl ich diese, ich sage mal, Hellsichtigkeit auch nicht immer zur Anwendung bringe. Zum Beispiel, wenn ich schnallen sollte, dass es meiner besten Freundin so schlecht geht, dass sie
sich das Leben nehmen will. Ich presse die Lippen fest zusammen und frage mich, ob mein momentaner psychischer Zustand es mir überhaupt gestattet, meinem Vater zu helfen oder ob es nicht eher umgekehrt laufen sollte? Vielleicht würde ich mich aber sogar wieder kräftiger fühlen, wenn ich ihm helfen kann. Ist doch möglich.
Ich lächle leicht zwiegespalten. »Okay.«
Und dann gehen wir hintereinander im dunklen Fahrradschuppen, an den angeschlossenen Rädern entlang, bis zu meinem. Herrlich! Ich habe hinten einen Platten! Na, das passt ja. Jetzt werde ich von Papa hören, wie schlimm wir mit unseren Rädern umgehen. Das ist sein Lieblingsspruch. Das Donnerwetter erwartend, drehe ich das Zahlenschloss auf und ziehe mein Rad aus dem Ständer. Ich versuche, selbstsicher zu klingen. »Mist!«
Papa nimmt die Luftpumpe aus der Halterung und meint - tatsächlich - in seinem altbekannten, vorwurfsvollen Ton: »Wie oft soll ich euch noch sagen, dass ihr die Luftpumpe nicht am Rad …«
So ist Papa. Der totale Automat. Gerade noch hatte er vor, mal irgendwie zugänglich zu sein, zack, fällt er in sein altes Muster zurück. Immer, egal, in welcher Situation, grundsätzlich hat er Verbesserungsvorschläge zu machen. Er kann es nicht lassen. Alles ist wieder beim Alten. Nicht mal zwei Minuten hat Papa durchgehalten. Doch komischerweise bringt er seinen Satz nicht zu Ende, sondern hockt sich neben den Reifen, schraubt die Verschlusskappe vom Ventil ab, steckt sie sich zwischen die Zähne und nuschelt: »Gut, dass du die Luftpumpe dabeihast.«
Okay, Leute. Das ist heute offenbar ein ganz besonderer Tag. Noch nie hat Papa einen Grund gefunden, mich zu loben oder zu akzeptieren, dass ich nicht alles falsch
mache. Normalerweise hat mein Vater an allem etwas auszusetzen, um mir und dem Rest der Familie zu zeigen, dass wir ein Haufen minderbemittelter Vollidioten sind. Ich halte mein Rad am Lenker fest und finde auch: »Gut, dass ich die Luftpumpe dabeihabe.«
Papa pumpt und der Reifen wird wieder prall. Schließlich nimmt er die Verschlusskappe zwischen seinen Zähnen weg und schraubt sie wieder drauf. »Zu Hause müssen wir mal sehen, ob ein Loch
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