Leute, das Leben ist wild
stellt er ihn ans Fußende auf die kleine Ablage. Dann legt er sich wieder neben mich, stützt aber seinen Kopf in der Hand ab, sodass er auf mich hinuntersehen kann. Ich tue so, als ob ich es nicht merke. Aber aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er nicht zwinkert. Er sieht mich einfach nur mit seinen großen grünen Augen an, die bald über die endlose Fläche des Ozeans blicken und ihn in sich aufsaugen werden. All das Wasser. Doch jetzt bleibt sein Blick an meinen Augen hängen, sein Mundwinkel zuckt. »Was denkst du, Lelle?«
Ich verschränke die Arme unter meinem Kopf und blicke fragend zurück. Wenn sich das so einfach beantworten ließe. Lieber wüsste ich, was in ihm vorgeht? Vielleicht ist es ja das Gleiche, was in mir vorgeht, sodass wir uns darüber miteinander verbinden könnten. Zu oft habe ich aber die Erfahrung gemacht, dass die Leute nicht das Gleiche denken wie man selbst, und wenn man es dann laut ausspricht, kommt man sich noch fremder und abgeschnittener vor. Ob Arthur Angst hat, mich zu verlassen? Glaub ich nicht. Er käme immer ohne mich zurecht. Sogar in der Wüste käme er blendend ohne mich zurecht. Arthur braucht niemanden. Er steht auf beiden Beinen. Ganz für sich. Das ist ja das Frustrierende. Manchmal habe ich das Gefühl, gerade in letzter Zeit, dass es so egal ist, ob es mich für ihn gibt. Natürlich mag er mich, gerne will er mit mir zusammen sein, aber er würde es auch akzeptieren, wenn nicht. Ich bin ihm nicht egal. Er weiß nur, wie er sagt, dass sowieso alles flüchtig ist.
Ob er gerade deswegen Angst hat, auf seinem Plastikflaschenboot herumzusegeln und unterzugehen? Will er
das vielleicht sogar? Hat er überhaupt Angst, etwas zu verlieren? Hat er Angst, dass er nicht wiederkehrt? Hat er Furcht, sich selbst zu verlieren und als jemand anderer wiederzukommen? Fragt er sich, wer ich sein werde, sollte er wiederkehren? Überlegt er, ob wir uns je wiedersehen werden?
Er lächelt ganz leicht, seine Stimme klingt weich. »Lelle?«
Ich kann nichts sagen. So viel geht in mir vor. Vielleicht sollte ich einfach mit dem Drama aufhören, nicht so tun, als würde gleich alles auseinanderbrechen. Wahrscheinlich ist er einfach in ein paar Wochen wieder da, und alles ist so, wie es war. Nichts wird sich verändert haben. Niemand ist aus der Welt, solange er lebt. Sieht man ja an Papa. Das Dumme ist, ich traue mir selbst nicht über den Weg. Ich weiß, dass ich dumme Dinge tue, wenn ich mich verlassen fühle. Dann versuche ich ganz schnell, den Schmerz zu überdecken, indem ich mich in jemand anderen verliebe.
Arthur streicht mir mit seiner kühlen Hand über die Wange, den Hals hinunter, über die Schulter, meinen Bauch. Da bleibt seine Hand liegen. Dann wandert sie langsam wieder hinauf zu meiner Brust, nur ganz flüchtig. Er seufzt und murmelt: »Ich werde dich vermissen.«
Er beugt sich zu mir herunter und küsst mich ganz leicht und zärtlich auf die Lippen. Vorsichtig knabbert er daran und seine Hand streicht wieder hinunter über meinen Bauch. Ich küsse ihn zurück und aus meinem Augenwinkel läuft eine einzelne Träne. Zwischen den Küssen wispert Arthur immer wieder: »Meine Lelle, meine geliebte Lelle, ich werde dich so sehr vermissen.«
Und gerade als er sich langsam auf mich legt, seine Beine zwischen meine drängt, mir das Haar aus dem Gesicht streicht, und ich sagen will, dass auch ich ihn vermissen werde, aber nicht weiß, ob ich auf ihn warten kann, um ganz ehrlich zu sein - und auch, um ihm ein bisschen zu zeigen, dass ich nicht das Mädchen bin, das man zu oft verlassen sollte, fliegt eine Art Geschoss durch die Fensterscheibe und bleibt unter dem Hochbett liegen.
Ich zucke zusammen und Arthur rollt von mir runter und setzt sich blitzschnell auf. »Was war das?«
Ich weiß es nicht. Ich sehe nur die kaputte Scheibe und denke: Nicht schon wieder. Die habe ich nämlich auch schon zwei Mal mit der Hand zerkloppt - allerdings nur aus Versehen, wenn Arthur wieder seine fetten Kopfhörer auf dem Kopf hatte und nicht mitgekriegt hat, dass ich zu ihm reinwollte.
Arthur krabbelt mit schockgeweiteten Augen zum Fußende. »Runter, Lelle! Runter und raus!«
»Was ist?«
»Runter!«
Ich brauche etwas, bis auch bei mir ankommt, dass hier irgendwas nicht stimmt. »Was ist?«
»Komm endlich runter!« Arthur greift nach meiner Hand und reißt mich über die Matratze zu sich heran, dann springt er die Leiter vom Hochbett runter und ich springe in seine Arme hinterher.
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