Leute, das Leben ist wild
jetzt stampft er sogar mit dem Fuß auf und ruft: »Das erlaube ich definitiv nicht! Ich bin doch gerade mal eine Woche von zu Hause weg, wie kann das sein, dass deine Mutter sich so schnell jemand anderem ›hingibt‹?«
Ich bleibe cool, ich bleibe so was von cool. Papa ist echt durch, so viel ist mal klar. Ich meine trocken: »Und? Wie läuft es mit dir und deiner plastischen Chirurgin? Hat das Zukunft? Ich meine, ihr lebt ja schon richtig zusammen.«
»Jep. Sie ist nett. Wirklich nett. Sie sieht toll aus.«
»Ist das die, mit der ich dich damals auf der Straße getroffen habe? Die Rothaarige?«
Mein Vater nickt betäubt und hakt seine Daumen im Hosenbund fest. »Jep.«
»Hat sie Kinder?«
»Eine Tochter, eine sehr, sehr, sehr nette, also, eine Tochter.«
Okay, Leute, mehr will ich gar nicht wissen. Ich will nicht wissen, wie nett diese Tochter ist, und ich will auch nicht wissen, wie lange diese Kack-Liebesbeziehung schon läuft. Ich meine, hat mein Vater mit der Tochter Ausflüge in den Zoo unternommen, ihr Geschenke gemacht, ihr bei den Schularbeiten geholfen und so getan, als sei er ein guter Vater? Ich kotze. Ich will mir erst gar nicht vorstellen, dass Papa mit den beiden Grazien am Frühstückstisch über uns redet und erzählt, wie bei uns so das Familienleben abgelaufen ist. Ich will mir nicht vorstellen, wie sie sich morgens zusammen die Zähne putzen oder wie sie miteinander Sex haben. Das alles will ich gar nicht in meinem Kopf haben.
Doch Papa ist nicht der emotional intelligenteste Typ. Das stellt er gerade wieder unter Beweis, indem er sagt: »Du solltest sie mal kennenlernen.«
Das, liebe Leute, habe ich definitiv nicht vor. Wir erreichen unsere Häuserreihe und Papa verlangsamt seine Schritte. »So, ich werd dann mal wieder zurück zur Schule gehen und meinen Wagen holen.«
»Okay.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe Papa abwartend an. Vielleicht will er ja noch irgendwas zur Klärung sagen, wie es jetzt weitergeht, zum Beispiel. Oder mir eine Frage stellen in puncto: was er machen soll. Doch er guckt nur verloren hinter mich, an unserer Häuserreihe entlang zu seinen Rosen, die er jahrelang so gepflegt hat - gerade stehen sie in voller Blütenpracht. Rosa, rot, dunkelrot, herrlich. Will er die auch noch rausreißen und zu seiner Schönheitschirurgin mitnehmen? Mich würde es nicht wundern. Seine Augen füllen sich mit Tränen - offenbar rührt ihn das Leben. Er schluckt und mit belegter Stimme erklärt er: »Melde dich, wenn du reden willst. Wegen Alina oder Mama oder mir oder dir.«
Jetzt hebe ich wieder meine Hand. »Alles klar.«
Eigentlich dachte ich, er sei gekommen, um mit mir zu reden. Das hat er ja wohl schon mal nicht hingekriegt. Papa hat ernste Probleme, sich gefühlstechnisch zu öffnen. Total absurd. Jedenfalls weiß ich, dass ich mich, genau aus dem Grund, niemals bei ihm zum Reden melden werde. Da kann ich gleich versuchen, mit einem Gartenzwerg über die Liebe und das Leben zu philosophieren. Ich weiß noch, vor ein paar Jahren, als Mama wieder mal bei uns auf dem Sofa lag und den Notarzt angerufen hat, weil sie meinte, sie hätte einen Herzinfarkt, hat sich Papa unüblicherweise zu mir auf die Bettkante gesetzt und mir zur Ablenkung einen Fotoband über die Antiapartheidkämpfe in Afrika Mitte der 60er-Jahre gezeigt. Toll. Papa ist so was von emotional verkümmert - jedenfalls hat Mama das immer gemeint. Aber vielleicht hat sie ihn damit auch nur in eine Schablone gepresst, sodass er nie wirklich zeigen konnte, was er menschlich drauf hat? Vielleicht hat
ihn das so stark verunsichert, dass er es nicht mal probiert hat. Bei Männern denkt man immer, die haben die Macht. Die wissen und können alles. Möglicherweise ist es gar nicht so. Es gibt nicht nur eine Wahrheit, wie meine Therapeutin Frau Thomas nicht müde wird zu betonen.
Ich lächle. »Okay, ich geh dann mal.«
Papa nickt. »Gut, gut, gut.«
Ich murmle: »Viel Spaß noch.«
Dann drehe ich mich um und schlurfe an den Nachbarhäusern entlang nach Hause. Leute. Das ist gerade alles ein bisschen viel. Papa scheint auch nicht zu wissen, wohin er soll. Ich glaube, am liebsten würde er jetzt mit mir mitkommen und da weitermachen, wo er aufgehört hat, zu uns zu gehören. Nur: Wann war das?
»Grüß Mama von mir!«
Ohne mich umzudrehen, hebe ich noch mal die Hand, zum Zeichen, dass ich ihn gehört habe, und gehe weiter. Grüß Mama von mir. Die wird sich freuen. Ich weiß nicht mal, ob sie zu Hause ist.
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