Leute, die Liebe schockt
gesetzlich verboten war. Viele Frauen und Mädchen sind daraufhin an den Folgen gestorben oder haben sich vor Verzweiflung gleich selbst umgebracht.
Tja, Leute, da sind wir heute definitiv schon mal einen Schritt weiter.
Cotsch ist jetzt im sechsten Monat schwanger und inzwischen ganz zu Helmuth gezogen, damit er sie jeden Morgen mit dem Mercedes zur Schule bringen und sie am Mittag wieder abholen kann. Er und Mama wollen nicht, dass Cotsch in ihrem Zustand Fahrrad fährt. Das ist aber auch nur vernünftig. Meine Schwester fährt nämlich wie eine gesengte Sau, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich glaube, ich habe euch schon mal die Geschichte erzählt, wie sie mit dem Alurad von Alice, das sie gerade frisch zum Geburtstag bekommen hatte, eine ziemlich schnelle Runde um die Siedlung hingelegt hat und plötzlich einen schweren Unfall hatte, weil das Rad diese schnelle Fahrt irgendwie nicht ausgehalten hat. Jedenfalls ist die Lenkstange durchgebrochen und Cotsch ist damals mit dem Kinn voran über den Asphalt gerutscht. Solche Geschichten müssen, zum Wohl des Ungeborenen, entschieden verhindert werden. Wie auch immer.
Draußen ist Sommer und in Cotschs altem Mädchenzimmer wohnt keine Geringere als meine Schulfreundin Alina. Zieht euch das rein! Seit vier Monaten haust sie schon da und hört den ganzen Tag Tokio Hotel, von morgens bis abends, Mama schüttelt nur noch erschlagen den Kopf und flüstert: »Ich kann nicht mehr.«
Ist ja auch klar. Ihre älteste Tochter, die gerade das Abitur macht, ist schwanger, ihre jüngere Tochter steht noch immer zwischen zwei Männern, und dann wohnt da auch noch dieses Mädchen mit den hochgesprayten Haaren, das den lieben langen Tag Tokio Hotel hört. Papa verschwindet wie gewöhnlich morgens in seine Steuerkanzlei
und kommt erst abends wieder nach Hause. Da setzt er sich mit uns schnell an den Abendbrottisch, um dann zügig im Keller zu verschwinden, wo er an einer Gipsskulptur weiterarbeitet. Ich hatte ja bereits erwähnt, dass er eigentlich Bildhauer werden wollte. Also hat er das Schöpferische zu seinem Hobby gemacht, weswegen er sich kaum um die Familienangelegenheiten und um Mama kümmern kann. Höchstens noch ums Schuheputzen. Er meint: »Der Tag hat eben nur 24 Stunden.«
Heute Abend allerdings hat er versprochen, Alina und mich zum Tokio-Hotel-Konzert zu fahren. Vorher treffe ich mich aber noch mit Johannes, damit er mir die Backstagekarten überreichen kann. Seit der U-Bahnfahrt vor vier Monaten habe ich ihn nicht mehr gesehen, weil er plötzlich für ein Vierteljahr an einem Umweltprojekt in Kanada teilgenommen hat. Offenbar hat er da mit anderen Austauschschülern Trampelpfade durch den undurchdringlichen Wald gestampft. Keine Ahnung, das muss er mir nachher genauer erklären. Von daher habe ich es auch irgendwie nicht hingekriegt, ihn am Telefon nach seinem Liebesleben auszuhorchen. Ich dachte, nach so langer Zeit des Nichtsehens könnte das ja dann doch ein bisschen komisch wirken. Ich meine, ich will lieber so tun, als sei mir das alles egal. Ich plane, so ein bisschen unantastbar rüberzukommen, damit er sich wieder um mich bemüht. Ich weiß, das ist schizophren, weil ich ihn ja verlassen habe. Aber bevor ich anfange, einem Jungen demonstrativ hinterherzulaufen, muss die Welt zu einem Würfel werden.
Gerade stehe ich oben im Bad vor dem Spiegel und
föhne mir mit zittriger Hand mein Haar. Ich bin ziemlich nervös, Johannes zu treffen. Seine Stimme klang irgendwie so erwachsen am Telefon.
Mama hockt mit Alina unten im Garten und hilft ihr, einen Aufsatz in Deutsch zu verfassen. Ich habe meinen schon längst fertig, eine Viertelstunde habe ich dafür gebraucht. Mehr nicht. Wenn ich mich hinsetze und meine Fantasie anschalte, dann höre ich sofort eine Stimme, die mir gemütlich die ganze Geschichte erzählt. Total unkompliziert. Ich muss sie nur noch aufschreiben. Dafür kann Alina echt keinen graden Satz herausbringen. Das ist beinahe komisch. Ich glaube, die hat in ihrem Leben noch nie ein Buch gelesen. Nur InTouch oder so. Dafür ist sie natürlich gut in den wissenschaftlichen Bereichen, aber dafür braucht man ja auch keine Emotionen.
Unten klingelt es an der Haustür, und ich weiß, dass Mama und Alina die Klingel im Garten definitiv nicht hören werden. Also lege ich den Föhn vorsichtig auf den Waschbeckenrand und renne die Treppe runter, hin zur Haustür. Ich habe nur ein Unterhemd und Jeans an, fällt mir gerade ein. Aber da habe ich schon die Tür
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