Leute, die Liebe schockt
hätte ich ziemlich zügig auf den Trichter kommen müssen, dass da was nicht stimmen kann. Stattdessen dachte ich, sie trägt T-Shirts mit der Aufschrift »Dark is the Night«, um endlich mal ein bisschen wilder rüberzukommen. Und ich muss zugeben, manchmal habe ich mich sogar ziemlich lustig darüber gemacht. Von wegen: Scary, Alina! Dabei war das ein echtes Statement und ich dumme Nuss habe ihren stillen Hilferuf überhört. Ich bin ja eine echt tolle Freundin. Bei Gelegenheit
werde ich mich adäquat und in aller Form dafür entschuldigen.
Als Cotsch sich den Mund abgewischt hat, fährt Helmuth wieder langsam an. Im Schneckentempo rollen wir die Straße runter und hinter uns starten die Autos ein ziemliches Hupkonzert, so als hätte hier einer geheiratet. Fehlt bloß noch das üppige Hochzeitsblumenbouquet auf Helmuths weißer Mercedeskühlerhaube. Mir wäre es ja auch lieber, wenn unser Herr Tennistrainer mal ein bisschen Gas geben würde. Die Vorstellung, geschmolzenen Teppich im Fuß zu haben ist, ganz ehrlich, nicht die schönste. Doch wie immer, seit ich auf der Welt bin, geht es vorrangig um den Zustand meiner Schwester. Der allein bestimmt, seit ich denken kann, sämtliche Unternehmungen unserer Familie. Wenn man so will, diktiert Cotsch, was gemacht wird und was nicht, seit sie ein Säugling ist. Mama fragt echt immer zuerst Cotsch, was sie davon hält - selbst wenn es darum geht, einen Ausflug ins Museum zu machen oder so. Nur wenn Cotsch den Vorschlag interessant findet, wird die Sache gemacht. Ansonsten bleiben wir eiskalt zu Hause und langweilen uns.
Zu ihrer Rechtfertigung meint Mama dann immer: »Ich will mir einfach das Theater nicht mehr antun.«
Papa ist deswegen schon resigniert und unternimmt nur noch etwas allein. Er meint immer: »Macht das unter euch aus. Ich gehe in den Keller und arbeite an meiner Skulptur.«
Und schwups, schon ist er von der Bildfläche verschwunden, und Mama hockt mit ihren Töchtern alleine im Wohnzimmer und versucht, Cotsch doch noch zu irgendeiner
sonntäglichen Aktion zu animieren. »Oder wollen wir vielleicht spazieren gehen?«
Diesen zermürbenden Part wird jetzt bald Helmuth übernehmen. Viel Spaß, kann ich da nur sagen. Liebevoll klopft er Cotsch auf den Oberschenkel: »Brauchst du irgendwas, Bella? Kann ich dir irgendetwas Gutes tun?«
Cotsch sieht ihn von der Seite scharf an: »Ja, mach die Schwangerschaft ungeschehen! Mir ging es noch nie so dreckig.«
Und Leute, das will was heißen! Cotsch ging es schon oft ziemlich dreckig. Ständig flippt sie aus, weil sie sich benachteiligt fühlt und findet, die anderen sollten ihr die Welt zu Füßen legen. Aber auch wenn wir das alle tun würden, wäre Cotsch so was von unzufrieden. Die ist innerlich voller Abwehr. Ich hoffe nur, dass ihr kleines Babylein davon nichts mitbekommt. Hinterher bezieht es diese Abwehr auf sich und kommt schon mit einer Psychoklapse auf die Welt.
Helmuth streicht Cotsch weiter liebevoll über den Oberschenkel und meint mit so einer Seelsorgerstimme: »Das wird, glaub mir, das wird. Deine Hormone spielen gerade nur etwas verrückt. Wenn sie sich erst mal eingependelt haben, wirst du die glücklichste Schwangere, die unsere Welt je gesehen hat.«
»Wenn du meinst.«
Und von hinten meint Alina: »Ich würde es abtreiben lassen.«
10
Meine Schwester hat sich für ihr Baby entschieden. Ist ja wohl auch klar. Sie ist Christin. Und auch wenn sie keine Christin wäre, hätte sie die Sache durchgezogen. In unserer Familie werden keine Schwangerschaften abgebrochen, und ich will da auch gar nicht weiter drüber reden, weil das echt ein ziemlich scheußliches Thema ist.
Ich meine, im Sozialkundeunterricht mussten wir uns mal so einen Streifen angucken, in dem es darum ging, wie Frauen und unverheiratete Mädchen früher in den Vierzigern und Fünfzigern mit ungewollten Schwangerschaften umgehen mussten. Echt beängstigend. Wenn zum Beispiel ein Mädchen von ihrem Freund schwanger war, musste sie ihn heiraten, egal ob sie ihn geliebt hat oder nicht, nur um nicht Schande über ihre Familie zu bringen. Oder aber sie hatte so schlimme Angst, gesellschaftlich geächtet zu werden und als unverheiratete Mutter kein Bein mehr auf den Boden zu kriegen, dass sie den »Engelmacher« hat kommen lassen. Das war so ein dubioser umherreisender Typ, der von der Gesellschaft eh schon geächtet war und mit richtig schlimmen Mitteln die Abtreibungen auf dem Küchentisch vollzogen hat. Was natürlich
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