Leute, die Liebe schockt
Lederhandschuhen herum.
»Na ja, wie es einem so geht, wenn man von seiner Mutter dauernd ohne Grund eine gescheuert kriegt. Beschissen.«
Helmuth wirft mir über den Rückspiegel einen fragenden Blick zu. Ich weiß ja auch nichts, Leute. Für mich ist das ja auch die absolute Neuigkeit. Bis jetzt dachte ich immer, Alina wird von ihren Eltern verhätschelt und hat noch nie den Abgrund des Lebens hinuntergeblickt. Doch jetzt muss ich realisieren, dass sie direkt in der Hölle wohnt, und dabei wirkt sie so milchig und unbedarft und vom Leben ungezeichnet, dass ich echt verwundert bin. Ich meine, warum hat sie mir nichts gesagt? Ich bin doch ihre Freundin. Der erzählt man doch, wenn was im Leben schiefläuft. Das ist doch der Grund, warum man überhaupt Freunde hat. Stattdessen macht sie sich Gedanken über die Backstagekarten von Tokio Hotel. Das nenne ich einen erstklassigen Verdrängungsmechanismus. Oder vertraut Alina mir nicht? Denkt die, ich kann ihr nicht helfen?
Um der Sache auf den Grund zu gehen, frage ich also: »Alina, warum hast du mir nie davon erzählt?«
Etwas angespannt klopft sie mit ihren Nietenlederhandschuhen auf ihren Oberschenkeln herum. »Was hätte ich denn sagen sollen? So nach dem Motto: He, Lelle, soll ich dir mal was Witziges sagen? Meine Mutter klatscht mir dauernd eine …?«
Ich nicke. »Ja, zum Beispiel.«
»Und dann? Was hätte das gebracht? Was hättest du dagegen unternommen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Weiß nicht.«
Und Alina guckt triumphierend. »Siehst du.«
Lässig schlägt sie ihren Fuß mit dem Totenkopf-Van über und sieht schon wieder betont entspannt aus dem Fenster, so als würde sie hier gerade die Rolle der mutigen Ausreißerin spielen, die keine Gefühle mehr an sich ranlässt, um zu überleben.
Inzwischen fahren wir die Schnellstraße runter. Die orangefarbene Schallschutzmauer fegt an uns vorbei und ich bin plötzlich unsagbar müde, so als hätte ich mehrere Nächte nicht mehr geschlafen. Tatsächlich bin ich gerade etwas überfordert. Von allem. Von meiner schwangeren Schwester, von Alinas prügelnder Mutter, von der aufwühlenden Begegnung mit Johannes und dem geschmolzenen Teppich in meinem Fuß. Und als ich mir meinen verletzten Fuß genauer ins Bewusstsein rufe, krampft sich innerlich alles in mir zusammen. Schon bei der Vorstellung, was der Arzt gleich mit meinem Fuß macht, quasi eine Ausschabung, wird mir so was von übel.
Im Übrigen hatte ich ja eigentlich längst vor, Johannes wegen der Backstagekarten anzurufen und ihm zu signalisieren, dass ich noch immer an ihn denke. Ganz subtil. Jetzt ist die Sache mit dem Fuß und der Backpfeife dazwischengekommen. Diese Verzögerung sorgt bei mir auch nicht gerade für die optimale Entspannung. Ich kann es echt kaum erwarten, mit Johannes ins Gespräch zu kommen und herauszufinden, wie es momentan um sein Liebesleben bestellt ist. Leute, ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn wirklich. Mein ganzer Körper schreit nach ihm. Ich will, dass seine Hände über meinen Rücken streichen, dass er meinen Nacken küsst und ich mich an
ihn schmiegen kann. Gerade sehe ich sein Lächeln vor mir, und die ganze Zeit habe ich das Gefühl, ich verplempere hier meine kostbare Lebenszeit, die ich besser mit Johannes im Sonnenschein verbringen sollte. Oder auf seiner Matratze.
Ist das nicht grauenhaft? Kennt ihr das? Wenn die Sonne scheint - und gerade kommt die Sonne wie bestellt hell und gleißend hinter den tief hängenden Wolken hervor - und einen dieses Gefühl überfällt, dass man aus der Situation etwas ganz Besonderes machen möchte? Und zwar mit dem Menschen, den man über alles auf der Welt liebt. Kennt ihr das? Und dann ist dieser Jemand nicht da, und es fühlt sich so an, als verschenke man das Glück, als würde es, ich sage mal, in der Toilette runtergespült werden. Fast fühlt es sich so an, als würde ich Johannes nie wiedersehen. Ich weiß ja nicht mal, wo er gerade ist. Warum ruft er mich nicht an oder schickt mir zumindest eine SMS? Ich ziehe mein Handy hervor und gucke aufs Display. Nichts. Dann schalte ich das Handy eben ganz aus. Und gleich wieder an. Vielleicht hat er ja dann in der Zwischenzeit ein Zeichen gesendet. Bitte! Lieber Gott, bitte! Ich habe solche Sehnsucht nach ihm, dass ich mich am liebsten von innen nach außen krempeln würde. Besser, ich kühle mich runter und denke an meinen Fuß.
Helmuth sieht wieder besorgt in den Rückspiegel. »Warst du schon mal bei einer Beratungsstelle,
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