Leute, die Liebe schockt
Alina?«
»Wozu? Um mich beraten zu lassen, wie ich mich verhalten soll, damit ich keine mehr gescheuert kriege?«
»Na ja, ich weiß auch nicht, was die genau für Möglichkeiten haben, Teenagern in deiner Situation zu helfen …«
»Gar keine! Das ist ja der Witz. Die hören sich das alles an, machen ein paar schlaue Notizen, und dann lassen sie einen wieder gehen und meinen, man soll sich sofort melden, wenn es schlimmer wird.«
Helmuth nickt vor sich hin, und ich kann förmlich spüren, wie es in ihm arbeitet. Helmuth hat was gegen Ungerechtigkeiten. Er meint: »Weißt du, Alina, früher habe ich immer davon geträumt, in der Villa, die bei uns am Entenweiher steht, du weißt, welche ich meine? Die, in der diese beiden sonderbegabten Mädchen mit ihrer Mutter wohnen, da drinnen wollte ich früher mal ein Heim für Kinder aufmachen, die von ihren Eltern nicht genügend Liebe erfahren, um sie in Tennis auszubilden, damit diese armen Kinder wissen, was das für ein großartiger Sport ist und wie leistungsfähig sie eigentlich sind, wenn sie von ihren Eltern nicht permanent erniedrigt werden.«
Alina wackelt anerkennend mit dem Kopf und mit ihm ihre hochgesprayten Haare. »Cool. Klingt echt cool.«
»Tja, aber dann, mit dem Alter, werden die Träume immer kleiner.«
Alina rutscht nach vorne auf ihrem Sitz und hält sich an der Kopfstütze des Beifahrersitzes fest. »Allein der Gedanke zählt. Ich finde das echt toll, dass Sie sich für Sozialprojekte interessieren.«
Das ist wohl auch der Grund, warum Helmuth mit meiner Schwester liiert ist. Kleiner Scherz. Am Ende der Schallschutzmauer biegt Helmuth seufzend nach rechts ab und hält an der Bushaltestelle, in deren Leuchtkasten ein Plakat für die Bikini-Mode von H&M hängt. Meine Schwester hockt auf der Wartebank und ist total bleich im
Gesicht. Ihre blonden Locken hängen schlaff nach unten wie die Ohren eines Cockerspaniels und vor ihr auf dem Boden ist eine Lache mit Erbrochenem. Ich muss leider sagen, wie es ist. Jetzt, in dieser Situation, kann nichts mehr beschönigt werden. Helmuth parkt am Straßenrand, zieht die Handbremse an und springt raus. Durch die Windschutzscheibe sehe ich, wie er vorne in seinem weißen Tennisdress am Auto entlanghetzt und zu meiner Schwester läuft. Helfend bietet er ihr seinen starken Tennistrainerarm an. Sie nimmt dankend an und wankt mit ihm zur Beifahrerseite. Hauptsache, sie muss sich während der Fahrt nicht noch mal übergeben.
Alina verfolgt das Schauspiel mit ihren Augen und fragt abwesend: »In welchem Monat ist sie?«
Ich zucke mit den Schultern. »Das weiß keiner so genau.«
Ruckartig dreht mir Alina ihr Gesicht zu und sieht mich irritiert an. »Hä?«
Und ich werde kurz etwas lauter. »Was soll ich sagen? Es ist die Wahrheit.«
Helmuth zieht die Beifahrertür auf und Cotsch lässt sich ächzend auf den Sitz nieder, so als stünde sie bereits kurz vor der Niederkunft. Sie dreht sich mit Mühe zu uns um. »Hallo, Mädels.«
Wir fragen: »Wie geht es dir?«
»Beschissen.«
Alina meint: »Willkommen im Club.«
Helmuth hetzt wieder vorne um den Wagen herum, reißt die Fahrertür auf und schmeißt sich auf den Sitz. Er löst die Handbremse, dreht den Zündschlüssel rum und fragt: »Wo fahren wir jetzt eigentlich hin?«
Ich sage: »Ich würde vorschlagen, in die Notaufnahme.«
Doch meine Schwester ruft, ohne überhaupt von meiner Not Notiz zu nehmen:»Guckt euch das sexy Mädel da auf dem Plakat im Bikini an! Das könnte ich sein! Stattdessen übergebe ich mich hier im Fünf-Sekunden-Takt und werde immer dicker!«
Und gerade als Helmuth voll durchstarten möchte, um das Plakat hinter uns zu lassen, stößt meine Schwester ihre Tür wieder auf, beugt sich nach draußen und übergibt sich erneut. Alina reicht ihr von hinten ein Zewa-Soft-Taschentuch rüber. Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, der verlässlich ein Taschentuch dabei hat, dann ist das das Mama-Baby Alina. Wie wir inzwischen wissen, ist dieses perfekte Bild nur der schöne Schein vor der bröckligen Fassade. Tatsächlich, wenn ich eine aufmerksame Freundin gewesen wäre, hätte ich längst anhand von Alinas Outfit ihre knifflige Situation psychologisch ergründen müssen: hochgesprayte, schwarz gefärbte Haare, zerfetzte schwarze Röhrenjeans, schwarze T-Shirts mit der Aufschrift »Dark ist the Night«, Totenkopf-Vans und nietenbesetzte Lederhandschuhe. So ein Outfit schreit doch förmlich nach Hilfe! Wäre ich offen dafür gewesen,
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