Leute, ich fuehle mich leicht
Schwester und ich leben gefährlich. Die Menschen mögen es nicht, wenn jemand aus der Reihe tanzt. Darum ist Arthur auch nach Afrika gegangen, weil die Leute da weniger auf so etwas achten.
In jedem Fall muss ich mit Tessi die letzten Ereignisse des Tages besprechen, bevor sie heute Abend die Hauptrolle auf der Bühne gibt. Ich bin echt gespannt, wie sie das hinkriegt. Hauptsache, ihre Dinger stehlen ihr nicht die Show. Kleiner Scherz am Abgrund. Apropos: Ich will mir nicht vorstellen, wie Papa Cotsch heute noch ernsthaft zum Gespräch über Brustvergrößerung bittet. Ich sage euch, Leute! Die rastet aus! Cotsch will nicht diskutieren, die will Cash!
Meine Hand ertastet in meiner Jackentasche das belegte Brot, das Mama mir vorhin mit auf den Weg gegeben hat: »Sonst kippst du um.« Natürlich esse ich es nicht, sondern werfe die Stulle direkt in den nächstbesten Abfalleimer. Ein bisschen tut mir die Aktion natürlich leid, schließlich hat Mama das Brot mit viel Liebe bestrichen. Dennoch: Ich kann nicht gegen die Natur des Hungerns an. Und wenn ich tatsächlich wieder umkippe, dann ist das mein Schicksal. Hauptsache, es passiert immer irgendetwas. Das ist jedenfalls meine Devise. Als Nahrungsersatz und zum Nervenberuhigen zünde ich mir eine Zigarette an. Meine Güte, der erste Zug haut kreislauftechnisch ganz schön rein. Jetzt kippe ich aber wirklich gleich aus den Latschen. Ich hätte mir vielleicht vorher eine Bank suchen sollen, auf der ich mich niederlasse, bevor ich den Glimmstängel zum Glühen bringe. Jetzt muss ich durch dieses Rauschen hindurch. Ich atme tief ein und aus und taumle die Kopfsteinpflasterstraße hinunter, bis zur Straßenbahnhaltestelle. Solange ich in Bewegung bleibe, kann mir nichts passieren, nehme ich jedenfalls an. Den Kreislauf immer auf Trab halten. Ganz nach Doktor Schaffrats Motto: »Ab und zu mal ein paar Kniebeugen wirken wahre Wunder.« Na, dann los. Rauf und runter. Rauf und runter. Mein lieber Schwan, jetzt wird es richtig brenzlig. Doktor Schaffrats Kniebeugen wirken wirklich Wunder, aber leider keine erfreulichen. Mir wird direkt schwarz vor den Augen. Hilfe. Ich frage mich, wer dem die Doktorprüfung abgenommen hat. Wahrscheinlich hat er sich die Doktorurkunde selbst geschrieben oder aus dem Internet gezogen. Das ist ja heutzutage alles möglich. Schnell laufe ich auf die andere Straßenseite, einem Radfahrer vor die Lenkstange. »Oh, Verzeihung!«
Und er brüllt: »Hast du keine Augen im Kopf?«
Arschloch! Dieser Radfahrer hat offenbar kein Gespür für Notsituationen! Die Menschen werden auch immer herzloser! Vor lauter niedrigem Blutdruck bin ich schon fast erblindet. Aber ich will weiter, an der Haltestelle vorbei, über die Schienen. Auf geht’s! Gleich bin ich drüben. Jemand schreit hinter mir: »Mädel! Die Bahn!«
Ich reiße die Augen auf, es klingelt und wimmelt. Ich stolpere vorwärts, weil ich doch nicht sterben will. Einen Meter vor mir hält die Bahn mit quietschenden Bremsblöcken. Bevor mich weitere Passanten anschreien, husche ich schnell in den Wald hinein und hetze den Trampelpfad entlang. Über Stock und Stein und Wurzeln. Das Gute ist: Mein Adrenalinpegel ist jetzt so hoch, dass ich mir gleich zwei bis drei Züge von meiner Zigarette zur Beruhigung genehmigen kann. Zwischen zwei Sträuchern bleibe ich stehen. Meine Herren! Fast hätte es mich erwischt. Um ein Haar würde ich da jetzt auf den Schienen, in drei Teile geteilt, liegen! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Kopf, Rumpf, Beine. Da hätte Frau Doktor Rosenbaum ganz schön was zum Basteln und Modellieren gehabt - wenn nicht sogar der Fall der totalen Querschnittslähmung eingetreten wäre.
Ich atme so ein bisschen hektisch rum, meine Zunge tut weh, als würde sie glühen. Ich muss wirklich lernen, Ruhe zu bewahren, bei mir zu bleiben, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das ist wichtig, wenn man glücklich überleben will. Bis es mit dem Theaterabend losgeht, hocke ich mich besser noch ein wenig da vorne auf den Holzsteg am See und gucke den kleinen Optimistenseglern zu, wie sie ihre Runden über die glitzernde Wasseroberfläche ziehen. Kleine Kinder in orangefarbenen Rettungswesten, die dauernd: »Hilfe, Mama!«, schreien, während im Hintergrund das Ausflugsboot vorbeizieht. Hilfe, Mama. Aus dem Alter bin ich raus. Ich muss es alleine schaffen.
Als der Himmel anfängt, orangeviolett zu dämmern, stehe ich von meinem Platz auf dem Steg auf, gehe langsam die
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