Leute, ich fuehle mich leicht
Straße hinunter, am Spielplatz vorbei, unter den schweren grünen Baumkronen entlang. Über mir in den Zweigen zwitschern die Amseln, und es gibt nichts Berauschenderes als laue Sommerabende, an denen es leicht nach Keks riecht. Das ist ganz normal in dieser Gegend. In der Nähe haben wir nämlich eine große Keksfabrik stehen. Ich habe meine weißen Chucks an und fühle mich leicht. So gehe ich hin zu Tessis Schule.
Vor dem Eingang drücken sich schon ordentlich viele Schüler mit ihren Erziehungsberechtigten in Sommerbekleidung herum. Offenbar haben die Mütter versucht, noch einmal alles aus sich herauszuholen. Mit ihren floralen Mustern auf ihren weit schwingenden Einkaufszentrum-Kleidern locken die trotzdem keinen mehr hinterm Ofen hervor. Wenn ich mal eine gestandene Frau bin, will ich noch genauso rumlaufen wie jetzt. In Chucks und Jeans und immer mit leicht verruchten Haaren, die mir über die Schulter fallen. Ich meine, wieso soll ich wie eine Oma aussehen, wenn ich im Inneren noch keine bin? Ich verstehe die Erwachsenen nicht, warum denen so viel daran liegt, extra armselig zu wirken. Ich meine, das ist doch ein echtes Zeichen dafür, dass sie bereits aufgegeben haben.
Mama zieht sich auch immer die ältesten Klamotten an, die sie in ihrem Kleiderschrank finden kann. Besonders wenn sie zu ihrer Busenfreundin Rita rüberlatscht. Das aber liegt wiederum daran, dass Rita - wie Papa sagt - »einen Igel in der Tasche hat«. Das heißt, sie ist übertrieben sparsam, obwohl ihr Mann - wie bereits erwähnt - dieses hohe Tier bei der Bank ist und ordentlich Schotter nach Hause fährt. Aber Rita rennt schon, seitdem ich sie kenne, zu jedem feierlichen Anlass in dem gleichen lila Cordanzug. Und Mama passt sich ihr an, weil Rita es nicht leiden kann, wenn Mama, wie sie es nennt, »auftrumpft«. Im Alltag gönnt sich Rita dieses alte Blumenkleid und Sandalen. Genau wie Mama. Die beiden passen echt gut zusammen. Papa hingegen favorisiert gelbe Bekleidung. Bei unserem letzten Schwedenurlaub haben sie ihn beim Fahrradverleih sogar gefragt, ob er ein deutscher Postbote sei. Na ja. Ich muss einfach aufpassen, dass ich den Blick auf mich selbst nicht verliere - egal wie alt ich bin.
Ich schreite auf den hell erleuchteten Haupteingang zu, der sich an der Straßenecke befindet. Vom Eingang strahlt das milchig gelbe Licht auf die Menschentraube, die schnell noch ein paar Zigaretten raucht und sich gegenseitig begrüßt.
Ich bin alleine.
Wahrscheinlich fragen sich alle: »He, wer ist denn dieses interessante Mädchen?«
C’est moi, Leute. Ihr werdet in Zukunft noch viel von mir hören. Bald schon werde ich eine begnadete Bildhauerin sein. Das weiß ich jetzt schon. Anstatt aus Ton, werde ich ausgemergelte Kreaturen aus Marmor schaffen und damit ziemliche Berühmtheit erlangen. Ich meine, diesen schöpferischen Prozess muss man sich mal bildlich vorstellen: Vor mir steht ein riesiger Marmorblock, und darin ist längst die Figur enthalten, die ich später da raushauen werde. Leute! Ich bin Gott! Ich erschaffe Kreaturen. Das ist schon verrückt. In gewisser Weise habe ich sogar das Gefühl, dass ich selbst es bin, die in diesem Klotz steckt. Deswegen kann ich es auch kaum erwarten, mit der Meißelarbeit anzufangen, um mich quasi daraus zu befreien. Ich habe schon zu Papa gesagt, dass ich mir zu meinem Geburtstag im nächsten Monat einen riesigen Felsblock wünsche. Er hat gesagt: »Schauen wir mal.« In der Hinsicht ist Papa ein guter Partner - er steht auch total auf Kunst. Ich denke, er wird sich etwas einfallen lassen. Wahrscheinlich erarbeitet er gerade wieder eine seiner berühmten Pro-und-kontra-Listen. Leute, ich will mir wirklich nicht vorstellen, wie er versucht, mit Cotsch ein professionelles Gespräch über Brustvergrößerung zu führen.
Ich gucke starr in die Menge der Theaterbesucher, sodass das Geschehen vor mir verschwimmt und ich eigentlich gar keine Gesichter mehr erkennen kann. Zwischen all den Sommerjacken quetsche ich mich hindurch, die Treppe hinauf. Überall auf den Stufen stehen Schülergrüppchen, deren einzelne Mitglieder sich untereinander offenbar gut kennen. Die Mädchen und Jungen lachen und plaudern, und ich gehe ganz ruhig mitten hindurch, lasse mir die Haare vors Gesicht fallen, bis ich oben im dritten Stock ankomme. Hier riecht es nach Schmierseife und Turnhalle. Die Stimmen hallen durch die Gänge und meine Existenz ist die Beste, die man haben kann. Ich spüre ganz deutlich, dass eine
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