Leute, ich fuehle mich leicht
Waschbecken hervor. Achtundvierzig Kilo sind es heute Morgen. Das ist ganz in Ordnung. Letzte Woche habe ich zwar ein halbes Kilo weniger gewogen, aber solange ich nicht über achtundvierzig Kilogramm auf die Wage hieve, bewegt sich alles im akzeptablen Bereich. Ich weiß auch nicht, woran es liegt, dass ich manchmal zunehme, ohne mehr gegessen zu haben. Das macht mich normalerweise ganz wuschig. Heute nicht. Ich denke an Johannes, und im Spiegel sehe ich, dass mein Gesicht von roten Striemen überzogen ist. Die kommen wohl von den spitzen Zweigen, in die ich gestern Abend gestürzt bin. Als hätte man mich ausgepeitscht oder so. Ehrlich gesagt: Ich habe nichts gegen Wunden. Die gehören zu einem reichen Leben dazu. Es hinterlässt eben Spuren. Darum kann ich es auch nicht erwarten, die ersten Falten zu bekommen. Nur wer die harte Realität gelebt hat, erlangt Weisheit und den großen Überblick. Wenn ich eins nicht will, dann blöd und ahnungslos sterben. So wie Alinas Eltern. Und all die anderen Menschen, denen man tagtäglich begegnet. Die wissen nichts von Schmerzen, Traurigkeit, Einsamkeit und Leidenschaft. Die hegen keine philosophischen Gedanken oder entwickeln neue Lebensmodelle zwischen Mann und Frau. Die vegetieren dahin, ohne sich zu spüren. Da mache ich nicht mit!
In meinem Zimmer mixe ich mir erst einmal einen Protein-Shake aus rosafarbenem Pulver, das man mit Wasser anmischt. Damit sättige ich mich etwas. Nur Mama darf nichts davon erfahren. Die würde durchdrehen. Sie sagt: »Das ist Gift.« Mama ist schließlich voll auf dem Bio-Trip. Wenn sie meint. Mir schmeckt der Shake. Sobald ich die Zubereitung in dem dafür vorgesehenen Plastikbecher abgeschlossen habe, spüle ich ihn schnell im Gästebadezimmer aus und verstaue alles wieder in der Verkleidungsschublade. Da guckt Mama nie rein. Den Rest von meinem Zimmer durchsucht sie ständig, weil sie einmal in meiner Schreibtischschublade einen vollen Teller Kartoffelsuppe entdeckt hat. Seitdem glaubt sie, dass ich ständig Lebensmittel in meinem Zimmer verstecke, anstatt sie zu essen. Aber so blöd bin ich nicht. Ich schütte den Scheiß lieber gleich ins Klo.
Als ich meine verräterischen Utensilien versteckt habe, gehe ich ins Wohnzimmer, wo der Fernseher steht. Ich schalte ihn ein, weil morgens immer diese Gymnastiksendung für Senioren kommt. Da mache ich gleich mal mit. Ich liebe diese Sendung, da bleibt man fit. Ein gebräunter Mann und eine noch gebräuntere Frau stehen in engen Anzügen auf einem Steg, der auf einen Bergsee im Morgennebel hinausführt. Im Hintergrund verschwinden die schneebedeckten Berge im Dunst, und es ist, als wäre ich hautnah mit dabei. Bevor wir etwas für unsere Bauchmuskeln tun, marschieren wir erst einmal zügig auf der Stelle. Der Tag fängt gut an, finde ich.
Als eine halbe Stunde später die Abspannmelodie ertönt und sich meine beiden Trainer mit freundlichem Lächeln und Winke-winke bis zum nächsten Morgen von mir verabschieden, höre ich, wie vorne die Briefklappe herunterfällt. Ich rapple mich vom Teppich auf und renne zur Haustür, vielleicht ist ein Brief von Arthur angekommen. Von meinem Freund, der in Afrika mit Lehm rummatscht. Leute, ich vermisse ihn wirklich. Ich darf gar nicht daran denken. Ich muss mich auf Johannes konzentrieren, um den Verlustschmerz zu überwinden. Unter uns: Ich finde es ziemlich scheiße von Arthur, dass er mich hier mit diesen Wahnsinnigen zurückgelassen hat. Aber hätte ich mich ihm in den Weg werfen und brüllen sollen: »Bleib hier!« Nee! Er hatte ja etwas Vernünftiges vor: für arme Kinder Hütten und Brunnen bauen. So eine Entscheidung muss man akzeptieren. Das zeugt von Reife, sage ich mir.
Auf dem Boden vor dem Schuhregal liegt die Zeitung und ein Brief. Darauf steht, mit Füller geschrieben: »Für Hella«. Das ist meine Mutter. Die Schrift erkenne ich sofort. Es ist die von der blöden Rita. Offenbar hat die den Brief gerade persönlich zugestellt. Wenn Mama nachmittags zu ihr rübergeht, hat sie die Baileys-Pulle dabei. Daraus genehmigen sich die beiden gerne mal ein paar sahnige Schlückchen, um sich locker zu machen. Und Mama knetet Rita zusätzlich den Nacken, weil sie solche Verspannungen hat. Mama kriegt schon glühende Ohren, wenn sie nur an Rita denkt. Sie wirft sich der Lady wie so ein Untertan vor die Füße.
»Rita braucht mich.«
Von wegen! Rita behandelt Mama wie Müll. Aber Mama meint nur: »Rita ist eben überspannt. In ihrer Ehe läuft es
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