Leute, ich fuehle mich leicht
nicht.« Ich glaube viel eher, Mama braucht es, gedemütigt zu werden. Ich finde das krank. Cotsch meint: »Rita und Mama halten Männer für böse.«
Na ja.
Ich gehe mit dem Brief in mein Zimmer, setze mich damit auf meine Bettkante und überlege, ob ich ihn aufmachen soll, um mal ein bisschen klarer zu sehen, was da zwischen den beiden läuft. Ich drehe ihn um und zu meinem großen Glück ist er verklebt. So ein Mist. Am Schreibtisch versuche ich, mit einem Papierschneider ganz vorsichtig die Klappe abzulösen. Es gelingt mir. Ich ziehe den Zettel heraus und falte ihn auseinander. Da stehen nur zwei Sätze drauf:
»Es ist vorbei. Bitte kümmere dich um Susanna und Alice.«
Was soll das denn? Will Rita sich umbringen? Meine Hände zittern, die Knie auch. Ich vergesse zu atmen. Ich sitze einfach nur da und sehe auf diesen weißen, gefalteten Zettel in meiner Hand, mit der türkisen Tinteschrift, mit der Rita mir schon in der Grundschule in mein Poesiealbum geschrieben hat: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.« Und selbst hält sie sich überhaupt nicht daran. Ich weiß jetzt gar nicht, was ich mit diesem Brief anfangen soll. Ob ich ihn einfach wieder auf den Boden im Korridor legen und so tun soll, als wüsste ich von nichts? Oder ob ich ihn wieder zukleben und auf Mamas Schreibtisch legen soll? Oder sollte ich ihn vernichten? Das allerdings würde auffallen, spätestens dann, wenn Rita Mama fragen würde: »Hast du nicht meinen Hilferuf bekommen?« Außer sie bringt sich tatsächlich in den nächsten Minuten um - dann aber komme ich womöglich wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht. Ich klebe den Brief also mit Pritt-Stift wieder zu und lege ihn zurück auf den Boden hinter der Tür. Wenn Mama nachher nach Hause kommt, wird sie ihn ja sofort entdecken, aufmachen und Ritas Rettung einleiten. Hauptsache, Rita hat sich bis dahin noch nicht umgebracht. Sollte ich vielleicht doch mal bei ihr durchklingeln? Oder vorbeigehen? Denn das hier scheint tatsächlich eine Art Abschiedsbrief zu sein. Kann doch sein. Womöglich hat sie aufgrund ihrer verkorksten Ehe keine Lust mehr auf das irdische Dasein. Mama hat ja schon öfter zu Cotsch und mir gesagt: »Männer machen uns Frauen das Leben schwer.« Jetzt hätte ich echt gerne eine Therapiestunde, um mit meiner Psychologin über die schwierige Situation zu diskutieren. Ich möchte mal wissen, was Frau Thomas zu Ritas Psyche meint. Und ich würde auch gerne mal wissen, wie Papa die Lage zwischen Mama und Rita sieht. Cotsch meint immer nur: »Sollen sie doch unter sich ausmachen.« Ich sehe das ja genauso, aber hinterher hat Mama Rita versprochen, ihre Töchter im Falle ihres Selbstmordes bei uns aufzunehmen. Das sähe Mama ähnlich. Sie hilft, wo sie kann. In dem Fall würde Cotsch allerdings ebenfalls ihren Selbstmord verüben. Ich will meinen Kindern später nicht erzählen müssen, dass meine Schwester sich umgebracht hat, weil sie nicht ertragen konnte, dass meine Mutter zwei sonderbegabte Halbwaisen bei uns aufgenommen hatte. Vielleicht sollte ich Alice aufsuchen und mit ihr darüber reden. Aber Alice ist immer so streng, wahrscheinlich weiß sie nicht einmal etwas von den Machenschaften ihrer Mutter. Am besten, ich fahre zu Tessi in die Schule und gucke, ob ich sie treffe und ob sie, trotz der »Cotsch-Affäre«, noch meine Freundin ist. Was wirklich schön wäre. Oder Johannes. Der wäre auch eine gute Ablenkung für mich. Hauptsache, ich habe Menschen um mich herum, die wissen, dass das Leben hart ist. Hauptsache, ich begegne nicht einem meiner Lehrer auf der Straße. Und wenn schon. Dann sage ich einfach, ich bin auf dem Weg zum Arzt. Kann doch sein. Hauptsache, Alice und Susanna ziehen nicht bei uns ein. Leute, ich glaube, ich muss mich auf den Weg machen, ein Leben zu retten. Das einer durchgeknallten Mutter!
8
S chnell schlüpfe ich in meine Jeans und ein T-Shirt. Ist ja warm draußen. Dann ziehe ich die Haustür hinter mir ins Schloss und laufe durch die Siedlung in Richtung Alice’ Haus. Ich frage mich wirklich, was mit Rita los ist. Ich meine, sie hat eine Familie. Da kann sie doch nicht einfach aufgeben. Vor allen Dingen hat sie ihre Töchter extra zu sogenannten Genies herangezogen, da kann sie nicht plötzlich die Kurve kratzen. Rita spinnt echt. Ich werde durch die Fenster gucken, ob drinnen im Haus etwas Verdächtiges zu erspähen ist. Wahrscheinlich werde ich zwei Beine auf dem Boden liegen oder von der Decke hängen sehen. Würg. Ich
Weitere Kostenlose Bücher