Leute, ich fuehle mich leicht
mir glatt und stopft sie an den Seiten fest, als würde ich eine Schwitzkur machen wollen. Als sie damit fertig ist, sieht sie auf mich herunter. Mit merkwürdig belegter Stimme flüstert sie: »Ich muss an ihr Tagebuch rankommen.«
»Hä?«
»Ich will mir ihr Tagebuch ausleihen.«
»Warum das denn?«
»Ich will wissen, was darin steht.«
»Das kann ich dir auch so sagen.«
»Was denn?«
»Keine Ahnung. Vermutlich das, was in Tagebüchern eben so drinsteht.«
»Ich muss wissen, wie sie über mich denkt.«
»Gar nichts denkt die über dich.«
Das hätte ich wohl besser nicht sagen sollen. Alina sieht mich derart wütend an, als würde sie gleich ein Hackebeil hinter ihrem Rücken hervorzaubern. Ich meine, sie hat ganz offensichtlich eine Schraube locker. Aber das behalte ich nun doch für mich. Bei Verrückten muss man aufpassen, da kann jedes Wort ein Wort zu viel sein. Besonders im schulischen Kontext. In letzter Zeit häufen sich ja die kriminellen Übergriffe unter den Schutzbefohlenen.
Ich lächle also und sage: »Und wie willst du an das Tagebuch rankommen?«
»Sie wohnt doch drüben in diesem gelben Haus hinter der Kirche. Das habe ich dir ja neulich schon mal gezeigt.«
»Ja.«
»Ich klettere den Baum vor ihrem Fenster hoch, und du klingelst unterdessen an der Haustür, damit sie runterkommt und dir aufmacht.«
»Ja, und wie willst du zu ihr ins Zimmer kommen?«
»Die hat die Tür zu ihrem Balkon immer offen.«
»Und woher weißt du, wo das Tagebuch liegt?«
»Woher wohl?«
»Keine Ahnung.«
»Ja, was denkst du denn, was ich abends immer mache?«
Ich fasse es nicht! Alina hockt sich nachts in Bäume, um irgendwelche Zehntklässlerinnen zu beobachten! Und da macht sich ihre Mutter Sorgen, sie könnte sich bei mir mit dem Hungern anstecken! Ich lache mich tot! Alina gehört in die Klapsmühle, und zwar lebenslänglich.
Jetzt tätschelt sie mir am Arm herum und meint: »So, nun ruh dich mal aus!«
Ich sage: »Bei fremden Leuten ins Zimmer einbrechen ist Einbruch.«
»Ja, ja, ja.«
Sie tätschelt noch ein bisschen weiter an meinem Arm rum, als sei ich die Geisteskranke. Dann endlich lässt sie von mir ab und zieht die Tür vom Krankenzimmer auf. Gerade als sie raus auf den Flur treten will, schwebt keine Geringere als ihre Zehntklässlerin Pia mit den hochgestellten Haaren vorbei. Schnell springt Alina mit ihren hochgestellten Haaren zurück ins Krankenzimmer und schmeißt kreischend die Tür hinter sich zu. Sehr unauffällig.
»Da war sie! Da war sie! Da war sie!«
Um sich zu reanimieren, muss sie sich erst einmal neben meiner Liege flach auf den ekligen Boden legen und tief durchatmen. Ich gucke über den Rand der Liege zu ihr hinunter, und wüsste ich nicht, dass Alina da unten liegt, ich würde denken, es handle sich um eine Art Troll in schwarzen Röhrenjeans. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen um meine gute Freundin. Diese schwärmerische Abhängigkeit kann nicht gesund sein.
Nachdem Alina wieder ins Klassenzimmer abgedampft ist, bleibe ich bis zum Ende des Unterrichts auf meiner Pritsche liegen und vergegenwärtige mir den vergangenen Nachmittag mit Johannes und seine Küsse. Ich beschließe, dass diese Beziehung ihre Richtigkeit hat und ich Arthur beizeiten von Johannes in Kenntnis setzen werden. Beizeiten. Allerdings weiß ich noch nicht, ob ich Mama von ihm berichten werde. Sie hält ja nichts davon, dass Cotsch und ich ernsthafte Beziehungen eingehen, bevor wir im heiratsfähigen Alter sind. Cotsch ist das egal. Mir nicht. Ich habe keine Lust, mir Mamas seltsame Ansichten dazu anzuhören. Wie Papa immer sagt: »Der Gentleman genießt und schweigt.« Das bezieht er allerdings eher auf sein Hobby, das »Schuheputzen«. Ist mir egal. Es gibt Sätze, die lassen sich auf alle Lebenslagen anwenden und dieser ist so einer. »Der Gentleman genießt und schweigt.«
Als die Schulglocke klingelt, schwinge ich meine Beine von der Liege, um schnellstmöglich hier rauszukommen. In dieser düsteren Kammer bekomme ich nach einer gewissen Zeit immer leichte Depressionen. Außerdem scheint draußen so schön die Sonne, da ist es angezeigt, sich die gelben Rapsfelder im Lichte zu betrachten. Gerade als ich mich verdünnisieren will, betritt mein Klassenlehrer Herr Falke, ohne anzuklopfen, die Szenerie. Automatisch begebe ich mich wieder in die liegende Position. Kaum ist er drinnen, schließt er auch schon die Tür hinter sich und kommt nah an mein Lager heran. Er legt mir seine Hand
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