Leviathan - Die geheime Mission
ohnehin keine Zeit für Aberglauben. Gestern hatten die Deutschen den Franzosen den Krieg erklärt und heute waren sie in Belgien einmarschiert. Gerüchten zufolge würde Britannien ab morgen mit dabei sein, falls der deutsche Kaiser dem ganzen Spuk nicht bis Mitternacht ein Ende bereitete. Und das hielt niemand für wahrscheinlich.
An der Darmluke nahm Deryn Tazza auf die Arme und stieg hinauf und nach draußen. In der kalten, schmalen Lücke zwischen Flugtier und Gondel leuchteten die Tarnzellen in dumpfem Silber, der Farbe der vom Mond erhellten schneebedeckten Gipfel unter ihnen. Die Schweizer Alpen ragten unter ihnen auf. Die Leviathan hatte, so schätzte Deryn, das erste Drittel ihrer Reise ins Osmanische Reich hinter sich.
Tazza schlüpfte Deryn aus den Armen und erkundete
neugierig die eigenartige Mischung von Düften, den Schiet aus dem Verdauungstrakt, das Bittermandelaroma dort, wo Wasserstoff entwich, und den salzigen Geruch der Flugtierhaut.
Deryn folgte dem Tier hinauf in den Darm und kniete sich hin, um Dr. Barlow ihre Hand zu reichen. Einen Augenblick lang blieben sie in der warmen Dunkelheit stehen, bis sich ihre Augen an das trübe grüne Licht der Glühwürmchen gewöhnt hatten.
»Ich möchte die Gelegenheit nutzen und Sie daran erinnern, Doktor, dass Sie hier nicht rauchen dürfen.«
»Sehr witzig, Mr Sharp.«
Deryn lächelte und kraulte Tazzas Kopf. Überall an Bord der Leviathan war offenes Feuer verboten. Streichhölzer und Feuerwaffen wurden unter Verschluss gehalten, und die Stiefel der Besatzung hatten Gummisohlen, um Funken zu vermeiden, die durch statische Aufladung verursacht werden konnten. Aber entsprechend der Vorschriften mussten Passagiere an die Raucherregeln erinnert werden, wann immer ein Besatzungsmitglied es für angebracht hielt.
Selbst wenn es sich um einen eingebildeten Eierkopf handelte, der sich ärgerte, wenn man ihn an so etwas brüllend Offensichtliches erinnerte.
Während sie weitergingen, duckte sich Tazza und wurde im Inneren des Wales offensichtlich ein wenig nervös. Der Steg unter ihren Füßen bestand aus Aluminium, doch die Wände des Verdauungstraktes lebten – sie waren
warm, bewegten sich bei ihrer Arbeit und leuchteten von den Glühwürmchen. Die Wasserstoffblasen über ihnen waren aufgebläht und durchscheinend und das ganze Schiff schwoll in der dünnen Höhenluft an.
»In den Eingeweiden des Schiffes.«
Sie näherten sich dem Bug und ein Summen wurde lauter und lauter: Millionen winziger Flügel wirbelten durch die Luft und trockneten den Nektar, den sie tagsüber in Frankreich gesammelt hatten. Ein wenig weiter waren die Wände mit einem Gewimmel von Bienen überzogen, die Deryns Kopf mit ihren kleinen runden Leibern umschwärmten und immer wieder vor ihr Gesicht und ihre Hände flogen. Tazza zischte leise und drängte sich an Deryns Beine.
Deryn konnte dem Beutelwolf die Nervosität nicht verübeln. Als sie die Bienenstöcke zum ersten Mal gesehen hatte, war sie davon ausgegangen, dass es sich um Waffen handelte – wie bei den Kampffalken und Flechet-Fledermäusen. Aber die Bienen auf der Leviathan besaßen nicht einmal Stacheln. Wie der Obereierkopf des Schiffes es gern ausdrückte, waren sie einfach nur eine Methode, um Treibstoff aus der Natur zu extrahieren.
Auf den sommerlichen Feldern, über die das Luftschiff hinwegflog, gab es unendlich viele Blumen, von denen jede einen winzigen Micker Nektar enthielt. Die Bienen sammelten diesen Nektar und verwandelten ihn in Honig, den wiederum die Bakterien im Darm des Flugtieres fraßen und daraufhin Wasserstoff furzten. Das war eine typische Strategie der Eierköpfe: Warum sollte man ein neues System
erschaffen, wenn man sich ein bereits bestehendes und von der Evolution fein abgestimmtes abgucken konnte?
Eine Biene blieb forschend genau vor Deryns Gesicht in der Luft stehen. Ihr Körper war mit gelbem Flaum überzogen und der Rückenbereich glänzte so schwarz wie der schönste Ausgehstiefel. Die Flügel waren nur verschwommen zu erkennen. Deryn blinzelte und prägte sich die Form ein, um später eine Skizze davon anzufertigen.
»Hallo, kleines Tier.«
»Wie bitte, Mr Sharp?«
Deryn verscheuchte die neugierige Biene und drehte sich um. »Wollten Sie sich etwas Bestimmtes anschauen, Ma’am?«
Dr. Barlow zog einen schwarzen Schleier unter ihrer Melone hervor und sah damit aus wie ein Eierkopf auf einer Beerdigung. »Mein Großvater hat eine dieser Spezies erschaffen. Ich wollte das
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