Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes (The Expanse Series Book 1)

stellte sich vor, Julie säße bei ihm, wie Naomi bei Holden gesessen hatte. Es war, als hätte sie auf die Einladung gewartet. Julie Mao, die er nie persönlich gesehen hatte, hob zum Gruß eine Hand.
    Und was ist mit uns?, fragte er sie, während er in die dunklen irrealen Augen blickte. Liebe ich dich, oder will ich dich nur so dringend lieben, dass ich den Unterschied nicht mehr erkenne?
    »He, Miller«, rief Holden. »Sind Sie wach?« Julie verschwand.
    »Ja, ich kann nicht schlafen.«
    »Ich auch nicht.«
    Sie schwiegen einen Moment. Die Expertensysteme summten. Millers linker Arm juckte unter der Schiene, wo das Gewebe dank der Medikamente beschleunigt nachwuchs.
    »Wie geht es Ihnen?«, fragte Miller.
    »Unheimlich gut«, gab Holden scharf zurück.
    »Sie haben den Mann getötet«, fuhr Miller fort. »Ich meine auf der Station. Sie haben ihn erschossen. Ich weiß ja, dass Sie auch vorher schon auf Menschen geschossen haben, beispielsweise im Hotel. Aber jetzt haben Sie jemanden ins Gesicht geschossen.«
    »Ja, stimmt.«
    »Kommen Sie damit klar?«
    »Aber sicher«, gab Holden ein wenig zu schnell zurück.
    Die Luftaufbereiter summten, der Blutdruckmesser an Millers rechtem Arm drückte ihn wie eine Hand. Holden sagte nichts mehr, doch als Miller hinüberschielte, konnte er sehen, dass der Blutdruck stieg und die Gehirnaktivität zunahm.
    »Die haben uns gezwungen, uns freizunehmen«, erklärte Miller.
    »Was?«
    »Wenn wir auf jemanden geschossen haben, ganz egal, ob der andere tot war oder nicht, mussten wir immer eine Weile freinehmen, die Waffe abgeben und zum Seelenklempner gehen.«
    »Bürokraten«, sagte Holden.
    »Ganz unrecht hatten sie nicht«, wandte Miller ein. »Wenn Sie auf jemanden schießen, passiert etwas mit Ihnen. Jemanden töten … das ist sogar noch schlimmer. Es spielt keine Rolle, ob sie es verdient hatten oder ob Sie in Notwehr gehandelt haben. Oder nur eine geringe. Aber das macht es nicht besser.«
    »Anscheinend hatten Sie öfter damit zu tun.«
    »Mag sein«, gab Miller zu. »Hören Sie, ich habe auf Eros gesagt, dass wir töten müssen und dass wir den Leuten da keinen Gefallen tun, wenn wir sie am Leben lassen. Es tut mir leid, dass all das passiert ist.«
    »Glauben Sie denn, Sie haben sich geirrt?«
    »Nein, das nicht. Aber es tut mir trotzdem leid.«
    »Verstehe.«
    »Jesus, ich will damit nur sagen, dass es gut ist, wenn es Ihnen zu schaffen macht. Es ist gut, dass Sie es innerlich immer wieder sehen und hören. Dass es Sie manchmal heimsucht. Es muss einfach so sein.«
    Holden schwieg eine Weile. Als er wieder das Wort ergriff, sprach er tonlos.
    »Wie Sie wissen, habe ich früher schon Menschen getötet. Allerdings waren sie nichts weiter als Punkte auf dem Radarschirm. Ich …«
    »Das ist nicht das Gleiche, was?«, antwortete Miller.
    »Nein, ist es nicht«, gab Holden zu. »Wird man es wieder los?«
    Manchmal, dachte Miller.
    »Nein«, antwortete er. »Nicht, wenn Sie eine Seele haben.«
    »Na gut, danke.«
    »Noch etwas.«
    »Ja?«
    »Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber ich würde mich nicht so einfach von ihr abweisen lassen. Sie verstehen also nichts von Sex, Liebe und den Frauen. Das bedeutet aber nur, dass Sie mit einem Schwanz zur Welt gekommen sind. Dieses Mädchen, Naomi, scheint es wert, sich etwas Mühe zu geben. Verstehen Sie?«
    »Ja«, sagte Holden. Dann: »Können wir nie wieder darüber reden?«
    »Klar.«
    Das Schiff knirschte, und die Schwerkraft verschob sich ein Stückchen nach rechts. Eine Kurskorrektur. Nichts Wichtiges. Miller schloss die Augen und bemühte sich, endlich einzuschlafen. Er sah unzählige Tote und dachte an Julie, an die Liebe und an Sex. Holden hatte etwas Wichtiges über den Krieg gesagt, das er sich nicht mehr zusammenreimen konnte. Die Eindrücke verlagerten sich ständig. Miller seufzte und rutschte herum, wobei er einen Drainageschlauch abklemmte. Er musste sich abermals drehen, damit der Alarm wieder aufhörte.
    Als die Blutdruckmanschette wieder zu arbeiten begann, hatte er das Gefühl, Julies Umarmung zu spüren. Sie war ihm so nahe, dass die Lippen sein Ohr berührten. Er öffnete die Augen und sah zugleich das eingebildete Mädchen und die Monitore, die sie versperrt hätte, wenn sie wirklich da gewesen wäre.
    Ich liebe dich auch, sagte sie. Ich passe auf dich auf.
    Er lächelte, als er sah, wie sein rasendes Herz die Werte auf der Anzeige veränderte.

33 Holden
    Holden und Miller mussten noch fünf Tage in der