Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes (The Expanse Series Book 1)
durch eine Gewalttat aus den Fugen geraten war. Oft boten sie den Ermittlern ganz ruhig Drinks an, beantworteten die Fragen und hießen die Detectives höflich willkommen. Ein Zivilist, der sie beobachtet hätte, wäre überzeugt gewesen, mit ihnen sei alles in Ordnung. An der behutsamen Art, wie sie sich bewegten, und an der Viertelsekunde, die sie zögerten, ehe sie Millers Blick erwiderten, konnte er jedoch ablesen, wie tief es sie wirklich getroffen hatte.
Die Ceres-Station verhielt sich ebenso vorsichtig, auch ihr Blick zögerte eine Viertelsekunde zu lange, ehe er sich auf etwas heftete. Angehörige der Mittelschicht – Geschäftsleute, Wartungsarbeiter, Computertechniker – wichen ihm in der Röhrenbahn aus, als wären sie Kleinkriminelle. Unterhaltungen erstarben, sobald Miller sich näherte. In der Wache wuchs das Gefühl, man befände sich im Belagerungszustand. Einen Monat zuvor hatten Miller, Havelock, Cobb, Richter und die anderen das Gesetz gehütet. Jetzt waren sie die Angestellten einer auf der Erde beheimateten Sicherheitsfirma.
Die Veränderung war subtil, aber von tiefem Misstrauen geprägt. Unwillkürlich wünschte er sich, er wäre größer und könnte noch deutlicher mit dem ganzen Körper zeigen, dass er ein Gürtler war und hierhergehörte. Er wollte das Wohlwollen der Menschen zurückgewinnen. Vielleicht mal ein paar Leute, die Virtual-Reality-Lesegeräte voller Propaganda verteilten, mit einer Verwarnung davonkommen lassen.
Ein kluger Impuls war das nicht.
»Was liegt an?«, fragte Miller.
»Zwei Einbrüche mit der gleichen Handschrift«, berichtete Havelock. »Der Bericht zu dem Ehestreit in der letzten Woche ist noch nicht abgeschlossen. Drüben beim Nakanesh Import Consortium gab es einen raffinierten Überfall, aber Shaddid hat mit Dyson und Patel darüber gesprochen, also ist das im Grunde schon erledigt.«
»Was tun wir dann?«
Havelock hob den Kopf und blickte in die Ferne, um zu verschleiern, dass er den Blick seines Partners nicht erwidern wollte. Er tat es öfter, seit die Dinge sich so mies entwickelt hatten.
»Wir müssen die Berichte einreichen«, sagte Havelock. »Nicht nur den Ehestreit. Da sind noch vier oder fünf offene Akten, die eigentlich nur noch unterschrieben und abgelegt werden müssen.«
»In Ordnung«, stimmte Miller zu.
Nach den Unruhen hatte er beobachten können, wie in einer Bar alle anderen Gäste eher als Havelock bedient wurden. Er hatte gesehen, welche Mühe sich die anderen Cops einschließlich Shaddid gaben, Miller zu versichern, er sei auf jeden Fall ein guter Junge, was zwischen den Zeilen als Entschuldigung für die Tatsache zu verstehen war, dass sie ihm einen Erder aufgehalst hatten. Havelock war es nicht entgangen.
Miller hatte das Bedürfnis, den Mann zu beschützen. Havelock sollte in der sicheren Wache Akten schaufeln und Kaffee trinken. Er wollte dem Mann helfen, so zu tun, als werde er nicht allein deshalb gehasst, weil er in hoher Schwerkraft aufgewachsen war.
Auch das war keine kluge Idee.
»Was ist mit deinem Scheißfall?«, fragte Havelock.
»Was?«
Havelock hielt einen Ordner hoch. Der Julie-Mao-Fall. Der Entführungsjob. Der Zusatzauftrag. Miller nickte und rieb sich die Augen. Irgendwo vorne in der Wache quietschte jemand, und jemand anders lachte.
»Ich weiß nicht so recht«, erklärte Miller. »Hab ihn noch nicht angerührt.«
Havelock grinste und hielt ihm die Akte hin. Miller nahm sie und öffnete sie. Die Achtzehnjährige grinste ihn mit perfekten Zähnen an.
»Ich will dir nur ungern die ganze Schreibtischarbeit aufbürden«, sagte Miller.
»He, du bist doch nicht derjenige, der mich aus dem Fall herausgehalten hat. Das war Shaddid. Und überhaupt … es ist doch nur Papierkram. Das hat noch keinen umgebracht. Wenn du Schuldgefühle hast, kannst du mir ja nach der Arbeit einen ausgeben.«
Miller tippte mit der Akte gegen die Schreibtischkante. Die kleinen Erschütterungen drückten den Inhalt fest in den Rücken des Ordners.
»Gut«, sagte er. »Dann kümmere ich mich mal ein bisschen um den Scheißfall. Ich bin zum Mittagessen zurück, also schreib was und sorge dafür, dass alle glücklich sind.«
»Ich lauf bestimmt nicht weg«, versprach Havelock. Als Miller aufstand, fügte er hinzu: »Hör mal, ich wollte nichts sagen, solange ich nicht sicher war, aber ich will auch nicht, dass du es zuerst aus einer anderen Quelle erfährst …«
»Hast du eine Versetzung beantragt?«
»Ja. Ich hab mit ein paar
Weitere Kostenlose Bücher