Lewis, CS - Narnia 2
daß Haupt und Rücken des Löwen mit Schnee bedeckt waren. Selbstverständlich konnte es nur eine Steinfigur sein. Kein lebendes Tier ließ sich jemals zuschneien. Da wagte sich Edmund sehr langsam, mit so laut klopfendem Herzen, daß es fast zersprang, näher an den Löwen heran. Auch jetzt noch getraute er sich kaum, ihn zu berühren. Doch endlich streckte er die Hand aus und spürte: Es war kalter Stein. Er war vor einem Löwen erschrocken, der bloß aus Stein war! Edmund atmete erleichtert auf. Trotz der Kälte wurde ihm plötzlich von Kopf bis zu den Füßen warm, und gleichzeitig kam ihm ein großartiger Gedanke: Vielleicht ist das der große Löwe Aslan, von dem sie alle redeten. Die Hexe hat ihn bereits gefangen und versteinert… Nun ist’s Schluß mit all den feinen Plänen, die sie mit ihm vorhatten. Ätsch! Wer fürchtet sich noch vor Aslan? Edmund lachte sich ins Fäustchen, und gleich darauf tat er etwas sehr Dummes und Kindisches. Er zog einen Bleistiftstummel aus der Tasche, malte auf des Löwen Oberlippe einen Schnauzbart und über seine Augen eine Brille. Dann sagte er: »Na, du alter, blöder Aslan, da hast du gedacht, weiß Gott, was du bist, und wie gefällt es dir nun, so als Stein dazustehn?« Doch das große steinerne Antlitz des Löwen schaute trotz des verunstaltenden Gekritzels so schrecklich traurig und hoheitsvoll ins Mondlicht, daß Edmund seines Spottes nicht recht froh wurde. Er drehte sich um und überschritt den Hof.
Als er bis zur Mitte gekommen war, sah er überall Steinfiguren. Sie standen da und dort, wie Schachfiguren auf ihrem Brett mitten im halbfertigen Spiel. Es gab da Steinsatyre und steinerne Wölfe, Bären, Dachse und Wildkatzen aus Stein. Es gab liebliche Figuren, die Frauen glichen; es waren aber Baumgeister. Da stand ein ungeheurer Zentaur, ein geflügeltes Roß und ein langgestrecktes Wesen, das Edmund für einen Drachen hielt.
Alle standen vollkommen regungslos und sahen im kalten Mondlicht so lebenswahr und unheimlich aus, daß es Edmund schwerfiel, den Hof zu überschreiten. Genau in der Mitte erhob sich gar noch eine riesenhafte Gestalt, ein Mann, so hoch wie ein Baum, mit einem grimmigen Gesicht und einem zottigen Bart, eine Keule in seiner Linken.
Obgleich Edmund wußte, daß er nur einen Steinriesen ohne einen Funken Leben vor sich hatte, getraute er sich kaum daran vorbei. Dann sah er aus einem Türspalt über ein schwaches Licht fallen und schritt darauf zu.
Einige Steinstufen führten zu einer offenen Tür, Edmund stieg hinauf. Quer über der Schwelle lag ein großer Wolf.
»Der macht mir nichts«, sagte sich Edmund. »Es ist nur ein Steinwolf. Er kann mir nichts tun«, und schon hob er seinen Fuß und wollte über ihn hinwegsteigen; da schoß das Riesentier mit gesträubtem Haar auf ihn zu, öffnete sein großes rotes Maul und sprach knurrend: »Wer ist da? Halt an, Fremdling, und sag Er mir, wer Er ist!«
»O bitte, Herr Wolf«, antwortete Edmund – er zitterte so, daß er kaum sprechen konnte –, »ich heiße Edmund. Ich bin ein Adamssohn. Ich habe Ihre Majestät einmal im Wald getroffen, und jetzt komme ich und überbringe ihr Neuigkeiten. Mein Bruder und meine Schwestern sind nun in Narnia, im Biberhaus. Sie wollte sie gerne sehn.«
»Ich werde es Ihrer Majestät melden«, sagte der Wolf.
»Bleibe Er indessen unbeweglich auf der Schwelle stehn, wenn Ihm sein Leben lieb ist.« Der Wolf verschwand im Haus. Edmund stand und wartete. Seine Finger schmerzten vor Kälte, und sein Herz hämmerte gegen die Brust.
Bald darauf kam der graue Wolf, Maugrim, Oberst der geheimen Zauberpolizei, zurück und rief: »Komm Er herein, komm Er herein, beneidenswerter Günstling der Königin, oder vielleicht auch nicht so zu beneidender!«
Edmund überschritt die Schwelle, er ging sehr behutsam, um nicht auf die Pfoten des Wolfes zu treten.
Er kam in eine lange dämmerige, von vielen Säulen getragene Halle. Sie war genauso voll von Steinfiguren wie der Hof. Gleich neben der Tür stand ein kleiner Faun mit einem sehr traurigen Gesicht. Das ist sicherlich Lucys Faun, dachte Edmund. Es war nur spärlich Licht im Raum, eine einzige Lampe brannte, und dicht neben ihr saß die Hexe.
»Da bin ich, Eure Majestät.« Edmund lief eifrig auf sie zu.
»Er wagt es, allein zu kommen?« fragte die Hexe mit schrecklicher Stimme. »Habe ich Ihm nicht gesagt, Er soll die andern mitbringen?«
»Bitte sehr, Majestät, ich tat, was ich konnte. Ich brachte sie ganz in die
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