Lewis, Michael
Anleger, Investoren, aber auch Märkte dazu tendierten, die
Wahrscheinlichkeit von extremen Veränderungen zu unterschätzen. Aber er ging
noch einen Schritt weiter. Charlie und Jamie waren hauptsächlich an der Wahrscheinlichkeit
von Katastrophen auf den Finanzmärkten interessiert. Ben befasste sich außerdem
auch noch mit der Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit von Unglücken im wahren
Leben war. Seiner Meinung nach neigten die Menschen auch dort dazu, das Risiko
zu unterschätzen, vermutlich weil sie gar nicht darüber nachdenken wollten.
Auf den Märkten und im wahren Leben gab es angesichts von Katastrophen nur
zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: Angriff oder Flucht. »Angriff heißt:
>Augenblick, ich hole nur rasch meine Knarre<, und Flucht heißt: >Das
ist ganz einfach Schicksal, daran kann ich beim besten Willen nichts ändern.<«
Charlie und Jamie waren beide Fluchttypen. Wenn Ben ihnen klar machte, dass
die globale Erwärmung letztlich dazu führen kann, dass der Meeresspiegel um
etwa sechs Meter ansteigt, zuckten sie nur die Schultern und meinten: »Daran
kann ich doch nichts ändern, weshalb sollte ich mir dann darüber den Kopf
zerbrechen?« Oder auch: »Sollte das je eintreten, bin ich hoffentlich schon
tot.«
»Tja,
zwei männliche Singles aus Manhattan«, seufzte Ben. »Was soll ich sagen, die
lebten einfach nach dem Motto: Es gibt kein Leben außerhalb Manhattans.« Es
überraschte ihn zu beobachten, dass Charlie und Jamie einerseits darauf
gedrillt waren, auf mögliche drastische Änderungen in den Finanzmärkten sofort
zu reagieren, andererseits aber zu übersehen schienen, was sich außerhalb der
Finanzmärkte abspielte. »Ich versuche, meine Kinder und mich auf eine Welt
vorzubereiten, in der nichts sicher ist«, erklärte Ben.
Charlie
und Jamie sahen es lieber, wenn Ben seine Weltuntergangsstimmung nicht zu
offen äußerte. Sie stieß die Menschen nämlich vor den Kopf. In ihren Augen gab
es keinen vernünftigen Grund, weshalb bekannt werden sollte, dass Ben eine
kleine Farm auf dem Land, nördlich von San Francisco, erstanden hatte, die
weitab vom Schuss lag und noch nicht einmal eine geteerte Zufahrt hatte. Dort
wollte er Obst und Gemüse anbauen und mit seiner Familie leben, wenn es die
Welt, so wie wir sie kennen, einmal nicht mehr geben sollte. Es fiel Ben
ziemlich schwer, seine düsteren Weltanschauungen für sich zu behalten, zumal
Cornwall Capital mit seiner Investitionsstrategie ins selbe Horn stieß:
Schließlich sprachen Charlie und Jamie in ihren Unterredungen auch davon, dass
sich Unfälle und Katastrophen jederzeit und überall ereignen können. Während
eines Telefonats mit Ben sagte Charlie: Du scheust dich vor jedem noch so geringen Risiko,
lebst aber in einem Haus ganz oben am Berg genau auf einer Bruchlinie, wo es
jederzeit zu Erdbewegungen kommen kann. Außerdem hat der Immobilienmarkt
seinen Höchststand erreicht. »Ich hörte nur noch, wie er murmelte: >Ich muss
jetzt weg.< Dann legte er auf«, erinnerte sich Charlie. »In den kommenden
zwei Monaten haben wir ihn so gut wie nie zu Gesicht bekommen oder telefonisch
erreichen können.«
»Nachdem
ich aufgelegt hatte«, erklärte Ben, »war mir klar: >Ich muss mein Haus
verkaufen. Und zwar jetzt gleich!<« Sein Haus war mindestens 1 Million
US-Dollar wert, doch vermietet würde es höchstens 2 500 US-Dollar monatlich
einbringen. »Ein Verkauf würde das 30fache der Bruttomieteinnahmen bedeuten«,
erklärte Ben. »Die Faustregel besagt, dass man beim Zehnfachen kaufen und beim
20fachen verkaufen soll.« Im Oktober zog er mit seiner Familie in ein
gemietetes Haus, weit weg von der Bruchlinie.
In
Bens Augen waren Charlie und Jamie weniger professionelle Finanzmanager,
sondern vielmehr Dilettanten, oder wie er es beschrieb, »zwei clevere
Kerlchen, die ein bisschen auf dem Markt herumstochern«. Doch ihre Strategie,
billig an Eintrittskarten für sehnlichst herbeigewünschte Finanzdramen zu
kommen, stieß bei ihm auf offene Ohren. Dabei war das Ganze alles andere als
narrensicher; die Wahrscheinlichkeit, sich getäuscht zu haben, war viel höher
als die, mit seiner Einschätzung richtig zu liegen. Manchmal blieb das ersehnte
Drama ganz aus, und manchmal hatten sie keine Ahnung, was sie da eigentlich
taten.
Eines
Tages stieß Charlie auf einen in seinen Augen merkwürdigen Preisunterschied
auf dem Terminmarkt für Benzin. Ohne zu zögern kaufte er einen Terminkontrakt,
verkaufte einen anderen und strich den
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