Lewis, Michael
Überzeugungen
ihrer Mitmenschen zu reagieren. Wann immer sie auf eine verlockende vage
Vermutung stießen, machte sich einer von ihnen daran, eine Verkaufstaktik samt
aufwendiger Präsentation mit PowerPoint-Folien und allem Drum und Dran dafür
auszuarbeiten. Es gab zwar niemanden, den sie damit hätten beeindru cken können, aber sie wollten
einfach wissen, wie plausibel sich ihr Verkaufsgespräch anhörte, und hielten
die Präsentation deshalb voreinander ab. Sie drangen nur deshalb in bestimmte
Märkte vor, weil sie davon ausgingen, dass sich dort bald etwas Dramatisches
ereignen würde, worauf sie bei guter Gewinnquote mit kleinem Einsatz spekulieren
und einen ordentlichen Reibach machen könnten. Im Grunde verstanden sie nichts
von koreanischen Aktien oder Dritte-Welt-Währungen, aber das war auch gar nicht
nötig. Wann immer sie auf etwas stießen, das sich in ihren Augen als günstige
Spekulation auf die Preisschwankungen eines Wertpapiers erweisen könnte,
konnten sie ja einen Experten mit der Klärung der Details beauftragen. »Das
haben wir immer so gemacht«, erläuterte Jamie Mai. »Wir haben uns auf kluge
Leute verlassen, die mehr von dem Ganzen verstanden als wir selbst.«
Auf
ihren Erfolg mit Capital One folgte schon bald der nächste, dieses Mal mit
einer europäischen Kabelfernsehgesellschaft namens United Pan-European Cable,
die in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Da sie mittlerweile über mehr
Kapital verfügten, kauften sie für eine halbe Million US-Dollar Kaufoptionen zu
einem sagenhaften Stückpreis. Als sich UPC kräftig erholte, hatten sie im
Schnellverfahren 5 Millionen Gewinn gemacht. »Nun hatte uns das Jagdfieber
voll erwischt«, erinnerte sich Jamie. Als Nächstes spekulierten sie auf eine
Firma, die Sauerstoffflaschen direkt in die Häuser der Patienten auslieferte.
Aus 200 000 US-Dollar wurden im Handumdrehen 3 Millionen US-Dollar. »Unsere
Erfolgsquote lag bei 100 Prozent«, schilderte Charlie. »Wir hatten jede Menge
Spaß. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mir vorstellen, etwas bis zum
Rentenalter zu tun.«
Entweder
waren sie auf eine gigantische Schwachstelle der modernen Finanzmärkte
gestoßen, oder sie hatten eine enorme Glückssträhne. Es war nicht untypisch
für die beiden, dass sie selbst nicht recht wussten, womit sie es da eigentlich
zu tun hatten. »Es ist nicht einfach zu merken, ob da mehr Glück als Verstand
im Spiel ist oder nicht«, fasste Charlie es zusammen. Wie auch immer, sie
gingen jedenfalls davon aus, dass sie bereits tot sein würden oder kurz vor
ihrem Ableben stünden, bis feststünde, ob ihre Erfolgsbilanz den Gesetzen der
Wahrscheinlichkeit folgte. Deshalb verbrachten sie kaum Zeit mit der Frage zu,
ob sie nun wahnsinnig clever waren oder einfach von Zufällen profitierten.
Andererseits war ihnen durchaus bewusst, dass sie weniger Ahnung hatten, als
sie eigentlich hätten müssen, vor allem von Finanzoptionen. Deshalb stellten
sie eine studentische Hilfskraft ein - einen Mathematikstudenten mit dem
Schwerpunkt Statistik an der Universität Berkeley, der ihnen zur Hand gehen
sollte. Nachdem sie ihn angewiesen hatten, den Markt für Terminkontrakte auf
Schweinebäuche zu analysieren, warf er das Handtuch. »Wir fanden schließlich
heraus, dass er Vegetarier war«, meinte Jamie. »Er hatte an sich schon ein
Problem mit dem Kapitalismus, aber das mit den Schweinebäuchen gab ihm den
Rest.«
Das
Ende vom Lied war, dass sie sich selbst mit komplizierten Finanztheorien
herumschlagen mussten. »Wir haben viel Zeit damit verbracht, unsere eigenen
Black-Scholes-Modelle zu entwickeln, weil wir wissen wollten, was passiert,
wenn man von unterschiedlichen Annahmen ausgeht«, erklärt Jamie. Was sie bei
ihren Berechnungen am meisten beeindruckte, war, dass es die Modelle zuließen,
günstig auf Situationen zu spekulieren, die aller Wahrscheinlichkeit in dem
einen oder anderen Drama endeten. Angenommen, der Kurs einer Aktie fällt im
kommenden Jahr entweder auf null oder steigt auf 100 US-Dollar, dann wäre es
wohl eine ausgemachte Dummheit, eine Option auf den Kauf der Aktie zu 50
US-Dollar mit einer Laufzeit von einem Jahr für 3 US-Dollar Optionsprämie zu
verkaufen. Doch auf dem Aktienmarkt passierte genau das relativ oft. Bei dem
Modell, das die Wall Street für die Preisermittlung von Derivaten im Wert von
Billionen US-Dollar anwandte, wurde die Finanzwelt als geordneter,
kontinuierlicher Prozess angesehen. Doch das war sie eben nicht; sie war
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