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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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Golem
persönlich.
    Zigeunerfrauen
bewimmelten den Eingang der Kirche und boten Handlesedienste an. Bettler
streckten uns ihre Mützen entgegen. Wir hielten uns dicht hinter Tabakoff, ein
zusammengeleimtes Grüppchen, von dem keiner ausscherte, um nach einer Münze zu
kramen. Anstelle der bei Trauermessen üblicherweise hochgestellten Sargdeckel
standen rechts und links vom Eingang schwarzlackierte Bretter, auf denen die
Namen der Toten verzeichnet waren. In meinem steifen Zustand entging mir der
Name des Vaters.
    Tabakoff
und der alte Gitzin schlugen dreimal das Kreuz, als sie in die Kirche
eintraten. Wir anderen senkten ein wenig die Köpfe wie zu einem angedeuteten
Gruß.
    Im
Inneren war es zugleich dunkel und hell, im vorderen Bereich flammten Hunderte
von Kerzen, aber zu den Fenstern fiel kaum Licht herein. Der Raum hatte eine
Haube aus Nacht. Tabakoff händigte uns allen Kerzen aus, zündete sie an und
führte uns nach vorn. Umrahmt von einem Kerzenmeer, standen auf einem Podest
schwarzlackierte Kisten.
    Die
Kisten waren nur wenig größer als Schuhkartons. Man hätte edle Stiefel in ihnen
verpacken können; auf dem schwarzen Lack prangten, ein wenig hervortretend,
goldene Aufschriften. Soviel war von weitem zu erkennen. Neunzehn Kisten waren
es wohl, siebzehn Männerkisten und zwei Frauenkisten, akkurat auf schwarzen
Samt gestellt in drei Fünferreihen und einer Dreierreihe, und zwar in einer
leichten Schräglage, wahrscheinlich mit Stoppbrettchen versehen, damit das Zeug
nicht herunterrutschte.
    Die
Kirche füllte sich rasch, und nicht nur mit Verwandten. Mehr und immer mehr
Neugierige drängten herein, die von der ungewöhnlichen Totenreise gehört haben
mochten. Ich stand mit meiner Kerze etwas unbeholfen herum und fürchtete, es
könne eng werden, da hob aus dem unsichtbaren Raumdunkel oben der Chor an.
    Mir
war, als würde in jede Haarwurzel das Leben fahren.
    Die
Handlungen während der Messe konnte ich mangels Brille nur im Ungefähren
verfolgen. Gewedel, Geschwenk, viel Auf und Zu, jede Menge Hin und Her und Rein
und Raus.
    Auf
und zu gingen die Türen des Ikonostas, prächtig gekleidete Priester kamen und
gingen, sangen, lasen, schwenkten die Weihrauchfässer, Dinge wurden hereingetragen
und wieder weggetragen, gesegnet wurden die geheiligten Gerätschaften,
gesegnet wurden die Kisten, und immer wieder ertönte Gesang. Sprechen und
Singen, Singen und Sprechen, perfekt ineinander verwoben, das Sprechen (dessen
Wortsinn ich nicht verstand) zog unter das Singen so etwas wie einen Felsen,
von dem es sich lösen konnte, während das Singen das Sprechen in Höhen hob, in
welche die Vernunft nicht zu folgen vermochte. Der Raumklang war einzigartig.
Niemals dröhnte der Gesang, nie wurde er schrill, er schwoll im Feinen und zog
sich wieder in die Stille zurück, um sich von neuem zu sammeln, und glich
darin der Ebbe und Flut eines ruhigen Meeres.
    Pssst,
der Vater schläft. Fürchte dich nicht.
    Obwohl
ich Mühe habe, länger an einem Fleck zu stehen, schnell zusammensacke oder zu
zappeln anfange, muss diesem Gesang eine belebende Kraft für Knochen und Muskeln
innegewohnt haben, denn ich stand während der ganzen Messe still.
    Tabakoff
gab uns einen Wink, denn nun war die Zeit gekommen, an den Kisten
vorbeizudefilieren.
    Tatsache,
Stoppbrettchen. Auf den Samt genagelt.
    Aber
es war wie verhext. Ich konnte den Namen des Vaters nicht finden. Lag es an
der fehlenden Brille? Ihn hätte ich auch in kyrillischen Zeichen herauskennen
müssen. Dafür sprang mir Lilos Kiste ins Auge, vielleicht weil auf ihr der Name
in beiden Schriften geführt wurde: Lieselotte Amalie
Tabakoff   stand da, geb. Wehrle, 1921-1981. Ihre
Kiste nahm eine prominente Stelle ein, vorne inmitten der Dreiergruppe.
    Eine
elegante Schuhkiste war für Lilo gewiss das passende Behältnis, vielleicht
wäre Rot noch passender gewesen, dachte ich, auftrumpfendes Glanzrot inmitten
schwarzer Behälter. Kummer überflog mich. Es war so unwahrscheinlich, dass
Lilo nicht mehr die Immerselbe war; wie früher wollte ich meine Kinderwange an
ihren warmen Hals legen.
    Wir
gingen durch einen Korridor hinaus, der sich inmitten der Menschenmenge
öffnete. Draußen an der Sonne Entspannung. Erleichterte Gesichter ringsum.
Zigaretten wurden geraucht und Witze erzählt. Der Verkehr rauschte um uns her.
Wir waren froh, dass der erste Teil so erhebend über die Bühne gegangen war.
    Tabakoff
hatte uns nicht verraten, wie es hinaus zum Zentralfriedhof gehen sollte.

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