Lewyn - Die Halbelbin: Reise durch Garnadkan (German Edition)
dabei, das Richtige zu tun.“ Erschöpft schloss der alte Mann seine Augen. Er hatte seine Aufgabe erfüllt und trat in diesem Augenblick den letzten großen Weg an. Die Anwesenden verhielten in Stille und Trauer, als das geforderte Wasser endlich eintraf.
„Nun macht schon. Die Sterne werden bald nicht mehr zu sehen sein. Bedauert nicht das Ende dieses großen Mannes. Seine Zeit war längst vorüber. Er wartete nur auf Euer Erscheinen.“ Wesrhar drückte sanft lächelnd der Dreiundzwanzigjährigen den Krug in die Hand. Langsam ließ sie das Wasser in die Rillen laufen. Sie hatte einen Punkt entdeckt, der als Aus- oder Eingang dienen mochte. Gespannt verfolgten alle den Verlauf der Flüssigkeit. Etwas enttäuscht schaute die Heimatlose schließlich auf die fremdartigen Zeichen vor sich. Sämtliche Fugen hatten sich gefüllt, auch die einzelnen Punkte in der Mitte. Lewyn grübelte eine Weile. Dann erinnerte sie sich an den kostbaren Stock des gerade Verstorbenen.
„Wesrhar, darf ich Euch um den Stab Eures Urgroßvaters bitten? Ich denke, er ist der Schlüssel zu diesem Rätsel.“ Nach einem kurzen Augenblick nickte der junge Mann. Langsam und ehrfürchtig trat er auf den Körper zu, der jetzt schlaff in den Fellen des Sessels hing. Er verneigte sich vor ihm und bat um Erlaubnis, die Stütze des Greises an sich nehmen zu dürfen. Die Finger des Toten öffneten sich leicht und gaben den magischen Stock frei. Eilig kehrte der neue Stadtherr zu der am Boden Hockenden zurück. Die stand nun auf. Ihre Finger umfassten das Holz. Dann suchte sie die richtige Position für die verschieden langen Spitzen und fügte diese in die Löcher. Der Stab zog sich fest in die Mitte der schwarzen Platte. Selbst wenn es Lewyn gewollt hätte, sie konnte den Schlüssel nicht mehr entfernen.
Abermals war kratzendes, schleifendes Knirschen zu hören. Die einzelnen Steinquadrate sanken auf unterschiedliche Höhen und richteten sich neu aus. Die Linien darauf veränderten, mit Hilfe eines in ihnen enthaltenen Zaubers, ihre Form. Als dies Treiben nach einiger Zeit beendet war, sammelten sich die Blöcke wieder in einer Ebene. Das Wasser begann erneut seinen Weg zu suchen. Dann herrschte Ruhe. Nichts geschah mehr.
„Erkennst du einen Weg? Abermals sind alle Rinnen gefüllt.“ Soh’Hmil versuchte weiter, das Geheimnis der schwarzen Steine und ihrer blauen Linien zu ergründen. Doch konnte er keinen Pfad oder ein Ziel erkennen. Es waren wirre Zeichen.
„Hab ein wenig Geduld. Wir sollten auf die Sterne vertrauen. Sie sollten uns die Augen öffnen. Ich denke, in dem Augenblick, da der Morgenstern über der Öffnung des Felsens steht, werden wir sehen, was uns die weitere Reise weist.“ Gespannt richtete sie den Blick nach oben. Lange konnte es nicht mehr dauern.
Es war soweit. Der Morgenstern schob sich über das Zentrum des Doms. In diesem Augenblick sank die eisige Kälte des Winters mit seinem Lichtschein auf den Grund und traf auf den Stab von Genergk. Reif legte sich darum und fuhr in den Boden. Die Beobachter konnten verfolgen, wie sich der Frost ausbreitete. Aber nicht alle Fugen vereisten. Nach einiger Zeit schien ein Ziel erkennbar.
„Das sieht aus wie die Krone eines Königs“, meinte Wesrhar.
„Das ähnelt eher Bergen, einem Gebirge vielleicht.“
„Ihr habt beide Recht. Der nächste Weg führt in die Berge der zwei Könige. So weit ich weiß, sind sie dem Shynn’talagk vorgelagert.“
„Von solchen Bergen hörte ich nie. – Lewyn!“ Soh’Hmil sprang zu ihr. Aber das eisige Glitzern, das den Stab umfasst hielt und nun auch die Halbelbin, stieß ihn mit Wucht von der Freundin.
Aus dem Reif, der von dem Morgenstern aus auf Stab und Frau fiel, wurde schnell ein helles reines Licht. Es blendete alle, die sich in der Halle befanden, und schickte sie in den Schlaf. Die Kriegerin war währenddessen knapp über dem Boden in ihm gefangen. Auch hier brachte ihr die Helligkeit die Schmerzen der Erkenntnis. Nur mühsam vermochte sie es, der Qual nicht durch einen Schrei nachzugeben. Dennoch entschlüpfte ihr ein leises Stöhnen.
Als der Stern verblasste, um der Sonne Platz zu machen, ließ er endlich die Dreiundzwanzigjährige aus seinen Fängen. Krachend landete die Gepeinigte auf dem Boden. Ihr rechter Unterarm kam dabei auf dem offenbarten Zeichen zu liegen. Dessen Licht zog sich zusammen und drang durch Eis und Kleidung. Schließlich brannte sich das Mal tief in ihr Fleisch. Dieses Symbol würde sie nun mit sich
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