Lexikon der Oeko-Irrtuemer
Richter, der den Tankerkapitän in Untersuchungshaft nahm, verglich die Ölpest mit den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. 7
Doch bereits drei fahre später war mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen, wo die Ölverschmutzung stattgefunden hatte: Die Strände sahen wieder aus wie zuvor. Keine Tierart verschwand aus dem Prinz-William-Sund. Einige Populationen wuchsen sogar, zum Beispiel die Austernfischer (eine Vogelart). 8 Auch die Zahl der Seeotter, die bereits seit den siebziger Jahren (damals waren sie fast ausgerottet) ansteigt, nahm weiter zu. In den beiden Jahren nach der Katastrophe erreichten die Lachsfänge Rekordmarken. 9
Auch von einer Vernichtung der Vogelkolonien konnte keine Rede sein. Die Zoologin Dee Boersma untersuchte die Auswirkungen der Ölpest auf die Trottellummen (flugfähige Seevögel, die Pinguinen ähnlich sehen, aber mit diesen nicht verwandt sind). Über 70 Prozent der gefundenen Vogelkadaver gehörten zu dieser Art. Boersma und ihre Kollegin Julia Parrish sichteten das Zahlenmaterial, fotografierten die Vogelkolonien und zählten die Lummen. Ihr Resümee: »Entweder die Bestandsschätzungen von vor der Ölpest oder die Schätzungen über die Verluste oder beides zusammen stimmen nicht.« 10 Nach einem Vergleich ihrer Bilder mit alten Fotos der Vogelfelsen kamen sie zu dem Schluß, daß das Tankerunglück keinen nachhaltigen Einfluß auf die Lummenbestände hatte. 11
Schlimmer als der Ölschlamm war nach heutigen Erkenntnissen das gewaltige Reinigungsspektakel, das der Exxon-Konzern in Szene setzte, um die empörte Öffentlichkeit zu beruhigen. Die Putztruppen rückten in Hubschraubern und mehreren hundert Schiffen an. Pioniere errichteten Vogelwaschanlagen und Schlafcontainer für die Helfer. Einzelne Steine wurden mit Handbürsten und sogar mit Zahnstochern gereinigt, um den Fotografen eine blitzsaubere Küstenlandschaff vorzuführen. Arbeiter schwemmten mit Hochdruck-Dampfstrahlgeräten Ölreste aus den Stränden - so gründlich, daß fast die gesamte Bodenfauna dabei abstarb. An Stellen, die zu Vergleichszwecken in Ruhe gelassen wurden, reinigte sich die Natur ganz von selbst. 12 Denn angespültes Öl verschwindet zumeist ohne menschliches Zutun, wenn auch langsam. An der Oberfläche wird es von Sonnenlicht zersetzt, tiefer im Boden übernehmen bestimmte Hefen und Bakterien diese Arbeit. Drei Jahre nach dem Großreinemachen folgerte die Zeitschrift »Spektrum der Wissenschaft«, »daß die Natur mitunter besser allein zurechtkommt«. 13
Noch einmal für alle, die hinter diesen Argumenten Verharmlosung wittern: Es gibt keine Ausreden für die Alaska-Ölpest und andere Umweltfrevel. Die Verantwortlichen haben Strafe verdient. Die erfreulichen Selbstreinigungskräfte der Natur dürfen Ölkonzernen nicht als Entschuldigung dienen. Genauso wenig wie ein Gewaltverbrecher sich dadurch rechtfertigen kann, daß die Wunden und Knochenbrüche seines Opfers wieder verheilen. Doch im öffentlichen Umgang mit der Exxon-Valdez-Katastrophe zeigte sich ein seltsamer Drang, Ökodesaster immer noch schrecklicher darzustellen, als sie ohnehin schon sind. So entstehen Umweltmythen und ein negativer Größenwahn. Der Mensch erscheint allmächtig und die Natur gebrechlich. Doch wer die Natur immer kleinredet, zerstört damit auch den Respekt vor ihr.
1 American Scientist, März-April 1995. 2 Frankfurter Rundschau vom 23. 3. 1994. 3 Der Spiegel Nr. 28/1989. 4 Frankfurter Rundschau vom 23. 3. 1994. 5 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 4. 1998. 6 American Scientist, März-April 1995. 7 G. Easterbrook, A Moment on Earth, 1995. 8 BioScience, September 1995. 9 G. Easterbrook, A Moment on Earth, 1995. 10 American Scientist, März-April 1995. 11 BioScience, September 1996. 12 G. Easterbrook, A Moment on Earth, 1995. 13 Spektrum der Wissenschaft Nr. 12/1991.
»Das Versenken der Ölplattform ›Brent Spar‹ hätte dem Meeresleben geschadet«
Im Sommer 1995 verhinderte Greenpeace mit großer Unterstützung der deutschen Bevölkerung die Versenkung der Ölverladeplattform »Brent Spar« im Nordatlantik. Die Umweltorganisation mobilisierte Verbraucher zu einem Boykott der Tankstellen des Shell-Konzerns. Die »Brent Spar« wurde zum Symbol für rücksichtslose Meeresverschmutzung. Den Kampf gegen ihre Versenkung stellten die meisten Medien als mutiges Aufbegehren gegen Umweltfrevel dar. Inzwischen ist der Pulverdampf verflogen. Im Lichte der Tatsachen betrachtet, hinterläßt die
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