Lexikon der Oeko-Irrtuemer
vernichten. So ist der Vielfraß in Schweden akut von Ausrottung bedroht, weil die samische Urbevölkerung die Mardertiere trotz aller Verbote rücksichtslos verfolgt. 10
Nebenbei bemerkt: Ihren Mitmenschen gegenüber benehmen sich manche Naturvölker auch nicht viel rücksichtsvoller. Die Mordrate unter den Buschleuten in der Kalahari kommt derjenigen in den gewalttätigen städtischen Ghettos in den Vereinigten Staaten gleich. 35 Prozent der männlichen Gebusi, einem Waldvolk in Papua-Neuguinea, sterben durch Totschlag. 11 Bei den Eipo in West-Neuguinea liegt die Tötungsrate 20mal höher als in New York und 100mal höher als in Hamburg oder München (ein Viertel der Männer und 13 Prozent der Frauen sterben eines gewaltsamen Todes). 12
Schon unsere Großväter schwärmten für Südseezauber und Indianerromantik. Der unerschütterliche Mythos vom »edlen Wilden« wurzelt vermutlich in christlichen Paradiesvorstellungen. Die Wunschvorstellung eines guten, unschuldigen Urzustandes, der erst durch Zivilisation verdorben wurde, hilft über die Unzulänglichkeit der Gegenwart hinweg. Hinter der romantischen Sehnsucht steckt jedoch ein negativer Größenwahn, die Vorstellung, daß nur die moderne technische Zivilisation Kräfte entfalten kann, die die Natur vernichten. Doch zwei der wirkungsvollsten Zerstörungstechniken waren schon den Steinzeitmenschen geläufig: Feuer und die Jagd auf Großtiere.
Wer Feuer entfacht, kann Wälder in Steppen verwandeln. Und genau dies haben viele Naturvölker, und später die Hirtenkulturen, in großem Maßstab getan. Aber auch das Ausrotten von Tieren, zum Beispiel des Mammuts, kann ganze Landschaften verändern (heute sind viele Wissenschaftler davon überzeugt, daß das Mammut und andere Eiszeittiere nicht allein vom Klimawandel, sondern unter Mitwirkung des Menschen ausgelöscht wurden). Wo große Pflanzenfresser fehlen, können junge Bäume besser sprießen. So verwandeln sich lichte Baumsavannen in dichte Wälder. Bis heute besitzt Brandrodung (etwa in den Regenwaldregionen Südamerikas und Südostasiens) mehr Zerstörungskraft als mancher Umweltfrevel der technischen Zivilisation. Raubbau und Plünderung wurden nicht im 20. Jahrhundert erfunden. Um die Natur zu zerstören, reicht eine Fackel. Man braucht dafür weder Autos noch Kraftwerke und Chemiefabriken.
1 Frankfurter Rundschau vom 24. 9. 1993. 2 R. B. Edgerton, Trügerische Paradiese, 1994. 3 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 11. 1995. 4 Human Nature Nr. 4/1994. 5 S. Schama, Der Traum von der Wildnis, 1996. 6 St. Budiansky, Nature's Keepers, 1995. 7 Esquire (Deutschland) Nr. 3/1989. 8 Die Weltwoche vom 1. 2. 1996. 9 Natur Nr. 4/1994. 10 Du und das Tier Nr. 5/1997. 11 R. B. Edgerton, Trügerische Paradiese, 1994. 12 Der Spiegel Nr. 7/1997.
Perspektiven
Schon heute gehören Natur- und Artenschutz zu den wichtigsten Themen der Umweltdebatte. Dies wird sich in Zukunft noch verstärken. Auch wenn das letzte Dorf am Amazonas eine Kläranlage besitzt, Autos mit Solarstrom fahren und ein Biobauer Landwirtschaftsminister ist, wird Naturschutz für ökologischen Zündstoff sorgen. Menschen brauchen Fläche, um Nahrung und Rohstoffe anzubauen, dies geht nur auf Kosten der Natur. Dieser fundamentale Konflikt kann abgemildert, aber nicht gelöst werden.
Dazu kommt eine Besonderheit, die den Artenschutz von allen anderen Umweltfragen unterscheidet: Vergiftete Flüsse können zu neuem Leben erwachen, gerodete Wälder wieder wachsen und sogar der letzte Brennstab im atomaren Endlager hört in ferner Zukunft auf zu strahlen. Nur eines kann kein Mensch mehr rückgängig machen: die Vernichtung von Arten. Dies wird trotz der Fortschritte in der Gentechnik auch noch lange so bleiben. Daher müssen Natur- und Artenschutz politische Priorität erhalten.
1997 gründete sich in Deutschland eine bundesweite Bürgerinitiative gegen Nationalparks. In den Vereinigten Staaten gibt es solche Gruppen schon länger. Neue Fronten zeichnen sich ab, die man in der Umweltdebatte bisher nicht gewohnt war. Nicht Chemie-Multis bekämpfen Nationalparks, sondern Bauern, Hobbysegler und Heimatvereine. Die Wiederansiedlung des Luchses wird nicht von Ölkonzernen bekämpft, sondern von Schafzüchtern. »Wenn die Wälder wild werden, zittern die Menschen«, kommentierte die »Welt« den Konflikt um das Zulassen der natürlichen Zerstörungskraft des Borkenkäfers im Nationalpark Bayerischer Wald. Darunter heißt es: »Von den allem
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