Lexikon der Oeko-Irrtuemer
Naturgeschehen entfremdeten Mitteleuropäern des 20. Jahrhunderts erfordert die tatenlose Akzeptanz dieses Prozesses ein Höchstmaß an Gelassenheit und Einsicht. Zur Zeit spricht wenig dafür, daß sie es aufbringen.« 1
Eine der größten Menschheitsleistungen des 20. Jahrhunderts war die Einrichtung von Nationalparks und anderen Naturreservaten. Der Revolutionär Leo Trotzki hatte zu Beginn des Jahrhunderts vorhergesagt, daß die Menschheit auf dem Gipfelpunkt ihrer Ausbreitung Frieden mit der Natur schließen werde. Dies ist - zumindest teilweise -eingetroffen. In einer zukünftigen, technisch hoch entwickelten Gesellschaft, schrieb Trotzki, werde es weiterhin »Wildnis und Wald, Auerhähne und Tiger« geben. Der Mensch werde die Umwelt so geschickt gestalten, »daß der Tiger den Baukran nicht bemerken und nicht melancholisch werden, sondern wie in Urzeiten weiterleben wird«.
Die Zahl der Naturreservate stieg in 100 Jahren auf zirka 8 500 an. Der kulturelle Fortschritt, der sich dadurch ausdrückt, kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Denn viele tausend Jahre lang betrachteten Menschen die Wildnis stets als Feind (oft zu recht). Als schön werteten sie bestenfalls gepflegte Kulturlandschaften, in denen Bauern und Gärtner eifrig Hand angelegt hatten. In der Bibel wird Wildnis an 305 Stellen erwähnt, doch nie als etwas Schönes. Die hebräischen Wörter, die als »Wildnis« übersetzt wurden, bedeuten alle nichts Gutes, sondern zum Beispiel »wertlose Sache« oder »Ödnis«. Das Wort »Paradies« hat seine Wurzeln interessanterweise in dem altpersischen Wort für »Einfriedung«. 2
In reichen Ländern mit hoch entwickelter Landwirtschaft, können immer mehr Gebiete der Natur überlassen werden. Arme, nur schwach industrialisierte Länder müssen jedoch ihre landwirtschaftliche Fläche weiter ausdehnen. Daher sollten Naturschutzorganisationen ökonomisch und sozial überzeugende Konzepte suchen, um weitere Naturgebiete zu sichern und die bestehenden zu verteidigen.
Doch nicht allein um den Erhalt der Wildnisgebiete bahnen sich Konflikte an. Die Natur wird die Menschen zunehmend am Wohnort heimsuchen. Steinmarder, die Bremsschläuche zerbeißen, sind die Avantgarde. Bauern beklagen sich über zu viele Biber (die in Westdeutschland einmal ausgestorben waren) und Fischer über Kormorane. In Zukunft wird es solche Konflikte immer häufiger geben. Schon heute leben in europäischen Großstädten mehr Vögel als auf der gleichen Fläche im tropischen Regenwald. 3 Füchse, Frösche und Fledermäuse werden die ökologische Toleranz der Stadtbewohner auf harte Proben stellen. In den Vereinigten Staaten geht es schon heute zur Sache. Tödliche Attacken von Pumas und Bären auf Menschen haben dort den Ruf nach Abschuß der vierbeinigen Störenfriede laut werden lassen.
Trotz solcher Konflikte ist in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt die Bereitschaft gestiegen, auch lästige oder bedrohliche Naturerscheinungen zu akzeptieren. In den siebziger Jahren rückte noch bewaffnete Bereitschaftspolizei aus, als ein paar Wölfe aus einem Gehege in Ostbayern ausgebüchst waren. Heute siedeln aus Polen kommende Wölfe wieder in Brandenburg. Die Bevölkerung reagiert nicht panisch, und viele finden den Gedanken, auch in Deutschland ein bißchen Wildnis zu tolerieren, ganz sympathisch. Diese Toleranz zu bekräftigen und zu fördern wird eine weitere, wichtige Aufgabe der Naturschutzverbände sein.
Speziell deutsche Naturschützer werden mehr Privatinitiative zeigen müssen. Die Rolle des ewigen Protestierers gegen Staat und Industrie ist nicht mehr abendfüllend. Die Spender werden fragen, wo eigentlich die konstruktiven Ansätze bleiben, ob man mit ihren Millionen nicht mehr machen kann, als Broschüren zu drucken und Kampagnen zu finanzieren. Wenn die Verbände dazu übergehen würden, gefährdete Biotope zu kaufen (was in Nordamerika erfolgreich praktiziert wird), käme ein frischer Wind in den Naturschutz. Private Schutzgebiete wären die besten Werbeflächen für ökologisches Denken. Außerdem entstünde eine gesunde Konkurrenz zu den staatlichen Naturschutzgebieten. Die Bürger könnten vergleichen, wo sich Pflanzen und Tiere besser entwickeln. Die Naturschützer würden in der Praxis beweisen, daß die Privilegien von Landwirtschaft, Jagd und Fischerei die staatlichen Naturschutzgebiete ökologisch entwerten. 1999 kündigte sich endlich die Trendwende beim privaten Naturschutz in Deutschland an. Einige große
Weitere Kostenlose Bücher