Lexikon der Oeko-Irrtuemer
relativ langsamer Generationsfolge ist es wichtig, die Grasflächen möglichst lange Zeit nutzbar, also waldfrei, zu halten. Wo sie es können, brechen diese Großtiere den Jungwald nieder, um ihren Lebensraum zu verbessern. So gesehen ist Waldzerstörung durch Pflanzenfresser ein ganz natürlicher Prozeß. 10
Hirsche und Rehe sind ein ökologischer Faktor unter vielen. Viele Tierarten verändern den Wald: Borkenkäfer zerstören alte Bäume, Eichelhäher säen Baumsamen aus. Die lichte Baumformation und die Abwesenheit großer Raubtiere in den weitaus meisten Wäldern Deutschlands kommen den Pflanzenfressern zugute. Sie deshalb zu Sündenböcken zu erklären, ist ökologisch fragwürdig.
Zudem ist nicht einmal erwiesen, ob die ökologische Rolle von Wolf und Luchs wirklich von Jägern ersetzt werden kann. Denn neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß Raubtiere einen wesentlich geringeren Einfluß auf die Bestandszahlen von Pflanzenfressern haben, als früher angenommen wurde. Der entscheidende Regulationsfaktor ist der Winter, und dessen Einfluß wird durch Fütterungen außer Kraft gesetzt. Dennoch könnte eine Wiederkehr von Luchs und Wolf die Verbißschäden vermindern, da allein die Anwesenheit von Raubtieren Rehe und Hirsche in Unruhe versetzt. Ihre nächtlichen Freßgelage im nachwachsenden Wald würden kürzer ausfallen. Doch selbst in slowenischen Urwäldern (wo es Raubtiere gibt) zeigten drei Viertel der Tannen Verbißspuren - obwohl dort weitaus weniger Rehe leben als im aufgeräumten deutschen Forst. Forscher stellten fest, daß die Jungtannen sogar fünfmaliges Abknabbern verkrafteten und weiterwuchsen. 11
Es gibt kein natürliches Gleichgewicht zwischen Wald und Wild, es gibt auch keinen stabilen Wald, der ewig derselbe bleibt. Es gibt nur Prozesse von Werden und Vergehen. Bäume und Wälder sterben und wachsen erneut, sie rücken auf das Grasland vor und weichen wieder zurück. Tiere zerstören Bäume. Andere Tiere fressen diese Tiere. Wieder andere Tiere säen Wald. Und sie alle interessieren sich nicht im geringsten für das Waldbild, das Förster, Naturschützer, Jäger und andere Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts für erstrebenswert halten.
1 Süddeutsche Zeitung vom 7. 12. 1995. 2 W. Scherzinger, Naturschutz im Wald, 1996. 3 Der Spiegel Nr. 48/1994. 4 J. H. Reichholf, Comeback der Biber, 1993. 5 W. Scherzinger, Naturschutz im Wald, 1996. 6 Deutscher Jagdschutz-Verband, Broschüre »Wissenswertes zur Jagd in Deutschland«, Januar 1998. 7 Waldbericht der Bundesregierung, August 1997. 8 Augsburger Allgemeine Zeitung vom 29. 3. 1997. 9 J. H. Reichholf, Comeback der Biber, 1993. 10 W. Scherzinger, Naturschutz im Wald, 1996. 11 ebd.
»Nur Urwälder sind ökologisch wertvoll«
Unter dem Begriff »Wald« werden alle möglichen Formen von Baumgemeinschaften zusammengefaßt. Das führt zu Mißverständnissen. Während viele Europäer einen Wirtschaftswald aus gleichaltrigen Fichten schön finden und gern darin Spazierengehen, betrachten Naturschützer den gleichen Forst in der Regel als ökologisch wertlose Baumplantage. Länder wie Malaysia, denen Raubbau am Regenwald vorgeworfen wird, verschönern ihre offizielle Waldstatistik, indem sie Plantagen aus Kautschukbäumen und Ölpalmen zu den Waldgebieten rechnen.
Doch zum Glück sind in vielen Tropenländern ganze Urwaldregionen bis heute erhalten geblieben und wurden zum Teil sogar unter Schutz gestellt. Im Dezember 1997 kündigte der brasilianische Präsident Cardoso an, die Fläche der Waldreservate seines Landes auf 10 Prozent zu verdreifachen. 1997 standen 3,8 Prozent des amazonischen Regenwaldes unter Naturschutz. Auch von den anderen Waldtypen des Landes sollen 10 Prozent ungenutzt bleiben. Brasiliens Regierung war die 21., die sich der WWF-Kampagne »Wälder zum Leben« anschloß. Die Naturschutzorganisation will mit Hilfe der Weltbank weltweit ein Zehntel der repräsentativen Waldflächen als Naturreservate sichern. 1
In Westeuropa dagegen gibt es schon seit langem so gut wie keine Urwälder mehr. Hier hat die Umwandlung in Wirtschaftswälder vor mehr als 200 Jahren eingesetzt. Dieser Prozeß ist weltweit noch im Gange. Im Grunde holt die Forstwirtschaft nach, was die Landwirtschaft vor Jahrtausenden vorexerzierte: planvoller Anbau statt Jagen und Sammeln. Wie der Bauer, der Schweine züchtet, statt mit dem Spieß hinter Schwarzkitteln herzurennen, pflanzt der moderne Förster den Wald, den er später ernten will,
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