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Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Titel: Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz
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zu diesem Thema lassen sich an einer Hand abzählen. Insgesamt gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, das Phänomen zu verstehen. Glaubt man der einen, so sind Rattenkönige von Menschenhand hergestellt worden. Das ist vermutlich durchaus vorgekommen, denn mit einem Rattenkönig konnte man auf Jahrmärkten gehöriges Aufsehen erregen. Außerdem eignet er sich perfekt als Schreckgespenst. Allerdings ist höchst fraglich, ob alle Funde auf geschäftstüchtige Rattenfänger zurückzuführen sind. Die von Menschenhand erzeugten Knoten in Rattenschwänzen sollen viel ordentlicher und sauberer aussehen als das, was man beim Rattenkönig findet. Röntgenaufnahmen von Rattenkönigen zeigen komplizierte, chaotische Verknotungen der Schwänze mit daraus resultierenden Beschädigungen der Rattenwirbelsäulen, was auch für geschickte Tierverknoter eine echte Herausforderung darstellen dürfte. Zudem wurden Rattenkönige oft Jahre nach dem Tod der Ratten an unzugänglichen Orten entdeckt und nicht ausschließlich auf Jahrmärkten. Daher muss man ernsthaft überlegen, wie Ratten sich ganz alleine so gründlich verknoten können.
    Und das scheint gar nicht so schwer zu sein. Eine Publikation aus dem Jahr 1965 berichtet von holländischen Laborexperimenten zur möglichst selbstständigen Verknotung von Ratten. Dazu wurden die Schwänze der Delinquenten an einigen Stellen sauber zusammengeklebt und die so zwangsverbundenen Ratten in einen engen Käfig gesetzt. Die verwirrt durcheinanderkriechenden Tiere erzeugten in erstaunlich kurzer Zeit aus ihren Schwänzen einen gründlich verknoteten Spaghettihaufen – der erste im Labor gezogene Rattenkönig. Diese Versuche wurden mit Wanderratten durchgeführt, die mit Zorn und Unmut auf ihre hilflose Situation reagierten. Das könnte ein weiterer Grund sein, warum man fast nie Rattenkönige bei dieser Art gefunden hat – womöglich beißen sie sich in ihrem Ärger lieber gegenseitig tot, als gemeinsam um Hilfe zu fiepen. Genau das taten Hausrattenkönige nämlich in vielen Fällen, und deshalb wurden sie oft in lebendem Zustand vorgefunden. Zur Herstellung von Rattenkönigen brauchen die Nagetiere also klebrige Flüssigkeiten, zum Beispiel Urin, Speichel oder Nahrungsreste, und beengte Wohnverhältnisse, sodass die Rattenfamilie ihre Schwänze nur in einem großen Haufen aufbewahren kann. Ein mögliches Gegenargument: Eigentlich neigt die Ratte zu penibler Reinlichkeit und verbringt viel Zeit mit gründlicher Körperpflege. Sie würde sich angewidert abwenden, wenn man ihr anböte, sich mit Kollegen zu verkleben.
    Vielleicht geht es aber auch ganz ohne Kleben. Neue Erkenntnisse über das Phänomen kommen aus unvermuteter Richtung: Der Physiker Jens Eggers und seine Kollegen in Bristol veröffentlichten im Jahr 2006 eine Arbeit über die Entstehung von «Kabelsalat», das unbeabsichtigte Verknoten von Kabeln, vermutlich die erste Studie überhaupt zu diesem Thema. Für das Verständnis von Rattenkönigen enthält die Publikation zwei wichtige Feststellungen: Zum einen bildet sich Kabelsalat nur ab einer bestimmten Kabellänge, in Eggers’ Experiment etwa 16 Zentimeter, wiederum eine Erklärung, warum man Rattenkönige fast ausschließlich bei Hausratten mit ihren langen Schwänzen findet. Zum anderen muss man die Kabel nur einige Sekunden bis Minuten kräftig durcheinanderschütteln, um Knoten zu erzeugen. Man stelle sich jetzt Kabel vor, die, sobald ein erster Knoten entstanden ist, selbständig weiterzappeln, und man kann verstehen, dass man für einen Rattenkönig womöglich nicht einmal Klebstoff braucht, sondern nur ein verhältnismäßig kurzes Durcheinander.
    Wie erzeugt man Verwirrung in einem Rattennest und den dazugehörigen Schwänzen? Zum Beispiel, indem man unerwartet Krach schlägt, die Tiere aufscheucht und zur Flucht bringt. Das daraus folgende Durcheinander könnte leicht Anlass zu ersten Verknotungen geben, die anschließend in fortschreitendem Chaos zum Rattenkönig werden. Weitere Möglichkeiten sind Paarungskämpfe unter den Männchen oder ein geselliges Zusammenrotten zum Schutz vor Kälte. Viele Rattenkönige entstehen in den ersten Lebenswochen, wenn die Tierchen zwar noch nicht ohne Mutter klarkommen, aber schon eigensinnig durch die Gegend wimmeln. In dieser Zeit ist die Ratte ein unvernünftiges Ding mit langem Schwanz, ideale Voraussetzungen, um in absurde Notsituationen zu geraten. Klar widerlegt ist dagegen eine Entstehung des Rattenkönigs im

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