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Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Titel: Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz
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Ereignis den Vorgesetzten im Gehirn. In diesem «stereochemischen» Modell, ursprünglich vorgeschlagen vom Amerikaner John Amoore im Jahr 1952, ist der Geruch eines Stoffes durch Form und Größe seiner Moleküle festgelegt. Auch wenn das Schlüssel-Schloss-Prinzip weithin als Grundlage des Riechmechanismus akzeptiert ist, bereitet es einige Schwierigkeiten: Die menschliche Nase verfügt, wie schon erwähnt, nur über circa 350 verschiedene Typen von Rezeptoren. Wenn wirklich allein die Form wichtig ist, sollten wir streng genommen auch nur 350 Gerüche voneinander unterscheiden können; es sind jedoch deutlich mehr. Na und, sagt zum Beispiel Leslie B. Vosshall, Professorin an der Rockefeller-Universität in New York, dann sitzen die Schlüssel eben etwas lose im Schloss. Was zunächst wie Schlampigkeit klingt, erweist sich als cleverer Schachzug: So nämlich passen mehrere Geruchsmoleküle an denselben Rezeptor (schlecht zwar, aber sie passen) und verschiedene Rezeptoren an dasselbe Molekül. Durch Kombination der Informationen von verschiedenen Rezeptoren könnte das Gehirn Tausende unterschiedlicher Gerüche wahrnehmen.
    Ein ernsthaftes Problem für die stereochemische Theorie sind jedoch Moleküle, die ähnlich geformt sind, aber ganz anders riechen – oder umgekehrt ganz anders aussehen und trotzdem ähnlich riechen. Die Moleküle von Decaboran zum Beispiel, einer Substanz, die unter anderem als Raketentreibstoff dient, sehen denen des Camphan sehr ähnlich – nur sind alle Bor-Atome durch Kohlenstoff-Atome ersetzt. Während Camphan jedoch wie Kampfer riecht, das in zahlreichen Kosmetika und Medikamenten vorkommt, riecht Decaboran deutlich nach Schwefel (den es zu allem Überfluss nicht einmal enthält). Zahlreiche Stoffe riechen nach bitteren Mandeln, obwohl sie teilweise ganz anders aufgebaut sind als Benzaldehyd, die Substanz, aus der Bittermandelöl hauptsächlich besteht. Wegen solcher Unstimmigkeiten sucht man nach Erweiterungen oder Alternativen für das stereochemische Modell.
    Eine dieser Alternativen ist seit 1996 mit dem Namen Luca Turin verbunden, wenn auch die grundlegende Idee fast 60 Jahre älter ist und von G. Malcolm Dyson stammt. Der nämlich prognostizierte, dass nicht die Form des Moleküls entscheidend ist, sondern die Schwingungen innerhalb eines Moleküls. Setzt man Atome zu einem Molekül zusammen, entsteht keineswegs ein starres, unbewegliches Gebilde. Vielmehr muss man sich die Bindungen im Molekül wie Federn vorstellen, an denen Gewichte (die Atome) hängen, die fortwährend hin und her schwingen. Nicht nur einzelne Atome schwingen, sondern in komplizierteren Molekülen auch ganze Atomgruppen. Sie tun dies mit bestimmten Frequenzen, die unter anderem vom Gewicht der beteiligten Atome und der Stärke der Bindung abhängen. Jedes Molekül zeigt ein charakteristisches Spektrum aus Vibrationen, das man zum Beispiel verwenden kann, um die Struktur von Molekülen zu analysieren. Turin behauptet nun, dass die Nase genau dasselbe tut: Sie arbeitet wie ein Spektroskop und identifiziert Geruchsstoffe anhand der Schwingungsfrequenzen der enthaltenen Moleküle. Das ist zwar technisch komplizierter als Schlüssel und Schloss und klingt daher vielleicht unwahrscheinlich. Aber das Grundprinzip, die Wahrnehmung von Schwingungen, ist dem Körper nicht fremd: Auch das Auge und das Ohr nehmen Frequenzen wahr, entweder in Form elektromagnetischer oder akustischer Wellen.
    Allerdings ist im Falle der Nase bislang nicht klar, wie auf molekularer Ebene Vibrationen von Molekülen wahrgenommen werden sollen. Wie «messen» die Rezeptoren das Schwingungsspektrum der Geruchsstoffe? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wurde 2006 von Jennifer C. Brookes und Kollegen aus London veröffentlicht. Der von ihnen vorgeschlagene Mechanismus wurde bereits 1996 von Turin erwähnt und ähnelt dem einer Magnetstreifenkarte. Trifft ein Molekül mit einer bestimmten Schwingungsfrequenz auf den dazugehörigen Rezeptor, so wird, vereinfacht ausgedrückt, ein Stromkreis geschlossen: Elektronen fließen von einem Spender über das Geruchsmolekül zum Rezeptor, wo sie das Signal auslösen, das zum Gehirn gesendet wird – so jedenfalls die Theorie. Ob der Mechanismus auch in der Praxis funktioniert und ob er wirklich in der Nase eingebaut ist, müssen zukünftige Experimente klären.
    Die Vibrationstheorie wurde in der Fachwelt mit erheblicher Skepsis aufgenommen, trat jedoch einen Siegeszug durch die Medien an. Turin

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