Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
Mutterleib: Der Rattenkönig ist kein siamesischer Mehrling, besteht also nicht aus vor der Geburt zusammengewachsenen Rattenföten, sondern ist eine Ansammlung eigenständiger Individuen, die Opfer einer Verkettung unglücklicher Umstände werden. Ebenfalls scheint klar zu sein, dass Rattenkönige oft einige Zeit überleben, zwar vermutlich unter größeren Qualen, aber in seltsam gut genährtem Zustand. Ob sie tatsächlich von ihren nicht mitverknoteten Artgenossen aus Mitleid durchgefüttert werden, wie vielfach behauptet wird, ist jedoch unbewiesen. Plausibler erscheint es, dass die Mitglieder des Rattenkönigs sich eine Weile von den Resten dessen ernähren, was ihre ringsum lebenden Kollegen übriglassen.
Welches sicherlich leichtsinnige Verhalten zur Bildung der Rattenkönige Anlass gibt, ist umstritten und angesichts der Seltenheit der Funde schwer zu sagen. Dabei wäre es jetzt, wo wir abgeklärt genug sind, um davon auszugehen, dass der Rattenkönig nicht der leibhaftige Satan ist, allmählich an der Zeit, das jahrhundertealte Mysterium aufzulösen. Vermutlich verbergen sich dort, wo Rattenkönige entstehen, noch viel mehr interessante Erscheinungen, die geeignet wären, Fabelwelten und Horrorfilme anzureichern und so für unsere Unterhaltung zu sorgen. Man weiß viel zu wenig von der Unterwelt.
Riechen
Die Art und Weise des Geruchs bestehet darinne, daß die Bewegung der rüchenden Sache angenommen, gemäßiget und in das Gehirne zur Seele gebracht werde, damit diese derselben Eigenschafft empfinden und erkennen möge.
»Geruch», aus: Zedlers großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, 1732 – 1754
Für die meisten Menschen ist Riechen heute nur noch ein Hobby. Zum Überleben jedenfalls ist es nur selten notwendig, weil wir uns lieber auf Augen und, in geringerem Maße, Ohren verlassen. Zahlreiche Tiere jedoch lachen über diesen Trend zum Sehen und beharren darauf, ihre Umgebung mit dem guten alten Riechsinn zu erkunden. Vermutlich keine schlechte Idee, denn oft gibt es dort, wo sie wohnen, nicht einmal elektrisches Licht.
Hier der grobe Ablauf des Riechvorgangs: «Geruch» besteht aus den Molekülen von Duftstoffen. Gelangen sie zur Riechschleimhaut in die obere Nase, so werden sie von den dort befindlichen Rezeptoren, speziell für diesen Zweck konstruierten Molekülen, registriert. Die Rezeptoren erzeugen bei Ankunft des Duftstoffes ein elektrisches Signal, das über Nervenleitungen ins Gehirn geschickt wird. Dort geschieht, wie bei den anderen Sinnesorganen auch, die umständliche Auswertung der Geruchsinformationen. Aus den reinen Daten wird in einem komplizierten und noch lange nicht komplett verstandenen Prozess das für den Menschen Wichtige abgeleitet, zum Beispiel, ob man gerade eine Blume vor der Nase hat oder ein Stinktier.
Vieles hat man in den letzten Jahren über die am Riechen beteiligten Prozesse gelernt. Man weiß, dass etliche Säugetiere um die 1000 verschiedene Rezeptorenarten besitzen (beim Menschen sind es nur etwa 350), mit denen sie rund 10 000 Geruchstöne unterscheiden können. Wie man die Riechrezeptoren zusammenbaut, steht in etwa 1000 Genen, das sind immerhin 1 – 4 Prozent des gesamten Genoms – je nachdem, wie viele Gene man dem Menschen insgesamt zugesteht, was umstritten ist. Jedenfalls liegt dem Organismus offenbar einiges am Geruchssinn. Ähnliches gilt auch für das Nobelpreis-Komitee, das im Jahr 2004 den Nobelpreis für Medizin an Richard Axel und Linda B. Buck vergab, für mehr als ein Jahrzehnt gründlicher Erforschung des Riechsystems von den Rezeptoren bis zum Gehirn.
Bisher ungeklärt ist der Mechanismus, der ganz am Anfang des Riechvorgangs steht – die Wechselwirkung zwischen Duftmolekül, dem «Träger» des Geruchs, und dem Rezeptor. Was genau passiert, wenn ein Molekül auf einen Rezeptor trifft? Woran merkt der Rezeptor, dass ein bestimmter Stoff in die Nase gelangt ist? (Nein, die Antwort «am Geruch» wäre zu einfach.) Oder von der anderen Seite aus betrachtet: Welche Eigenschaft einer Substanz macht ihren Geruch aus? Warum riechen einige Stoffe angenehm, andere nicht?
Nach Meinung der meisten Experten arbeiten Rezeptoren und Duftstoffe nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Die Rezeptormoleküle stellen das Schloss dar und besitzen eine bestimmte Form. Kommt nun ein Molekül zum Rezeptor, das genau die umgekehrte Form hat, also wie ein Schlüssel in den Rezeptor hineinpasst, freut sich die Nase und meldet das
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