Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
lässt sich die Länge der Diagonale eines Quadrats nur bestimmen, wenn man Zahlen verwendet, die nach dem Komma unendlich lang sind und chaotisch vor sich hin stolpern – die sogenannten irrationalen Zahlen. Gleiches gilt für den Umfang von Kreisen, der ein Vielfaches von Pi ist – ebenfalls eine irrationale Zahl mit dem Wert 3,141592654 … (usw., bis das Buch voll ist, und dann immer noch weiter). Eine nochmalige Ergänzung erfuhr der Zahlenbegriff, als eine unglückliche Seele auf die Idee kam, die Quadratwurzel aus –1 zu ziehen – mit normalen Zahlen ein unlösbares Unterfangen. Resultat war die Einführung der «komplexen Zahlen»: Man fügt jeder normalen Zahl einen sogenannten Imaginärteil hinzu, der einfach ein Vielfaches von «i» ist, wie man die Wurzel aus –1 genannt hat. Eine handelsübliche komplexe Zahl lautet zum Beispiel 3+8i. Diese neue Art Zahlen erweist sich als äußerst praktisches Hilfsmittel im Hausgebrauch von Physikern. Genau genommen beruht ein Großteil unseres modernen Weltbildes auf einer Mathematik, die mit komplexen Zahlen arbeitet. Und das, obwohl wir im Supermarkt kein einziges Produkt zu imaginären Preisen kaufen können.
Als Nächstes benötigt man eine Vorstellung davon, was eine Funktion ist. Eine Funktion ist die omnipotente Wurstmaschine der Mathematik, sie nimmt eine Zahl (Fleisch) und stellt aus ihr eine andere Zahl her (Wurst), und zwar unter Benutzung einer bestimmten Vorschrift, die zum Beispiel lauten könnte «rechts an der Kurbel drehen» oder «die Quadratwurzel berechnen». Angewandt auf die Zahl neun, ergäbe das den Wert drei. Funktionen gibt es in vielen Farben, Formen und Geschmacksrichtungen, einige sind sehr einfach, andere hochkompliziert. Auch für komplexe Zahlen gibt es Funktionen, die genauso funktionieren wie bei anderen Zahlen auch: Sie nehmen eine Zahl, tun irgendetwas mit ihr und spucken am Ende eine andere Zahl aus. Dasselbe gilt für die sogenannte Riemannsche Zetafunktion, über deren Verhalten die Riemannsche Hypothese eine wichtige Vorhersage trifft. Leider ist diese spezielle Wurstmaschine ziemlich kompliziert und die dazugehörige Vorschrift unendlich lang, was gegen eine Wiedergabe an dieser Stelle spricht. Vieles an der Riemannschen Zetafunktion ist gut erforscht. Zum Beispiel weiß man, was passiert, wenn man sie auf gerade negative Zahlen anwendet, also –2, – 4, –6 usw.: Es kommt null heraus. Die geraden negativen Zahlen nennt man daher die «trivialen Nullstellen» der Riemannschen Zetafunktion. Die Riemann-Hypothese lautet nun: Alle restlichen Nullstellen haben eine bestimmte Eigenschaft – ihr Realteil ist immer genau ½. Das klingt nach all dem Hinundher, wie versprochen, erschreckend nutzlos, aber wenn man damit eine Weile herumspielt, erhält man eine erstaunliche Aussage über die Ordnung der Primzahlen.
Ab hier kann wieder ganz normal weitergeredet werden. Wie erwähnt, schwankt die Dichte der Primzahlen für große Zahlen um einen bestimmten, leicht zu berechnenden Wert. Wenn die Riemannsche Vermutung stimmt, dann tut sie das nicht vollkommen willkürlich, sondern folgt dabei dem wohlbekannten, geregelten Zufall. Wirft man eine Münze, so ist das Ergebnis zwar vorher unbekannt, man weiß aber, dass in der Hälfte aller Fälle Kopf erscheint. Man kann daher vorhersagen, wie wahrscheinlich es ist, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Genauso kann man mit Hilfe der Riemannschen Vermutung vorhersagen, wie wahrscheinlich eine bestimmte Primzahlendichte ist. Man ist damit deutlich weniger hilflos bei der Suche nach Primzahlen: Ohne Riemann-Vermutung kann man ungefähr vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Zahl eine Primzahl ist. Mit Riemann-Vermutung weiß man zusätzlich, wie weit man danebenliegen könnte. Die Riemann-Hypothese gibt uns also so etwas Ähnliches wie eine Wünschelrute in die Hand: Sie weist den Weg zur Lage der Primzahlen. Oder wie es der Mathematiker Peter Sarnak ausdrückt: Ohne Riemann-Vermutung arbeitet man nur mit einem Schraubenzieher ausgerüstet im Primzahlendschungel. Die Riemann-Vermutung dagegen ist eine Planierraupe.
Bis jetzt klingt das alles immer noch sehr akademisch. Was, so könnte man fragen, scheren uns die Primzahlen? Die Antwort lautet: Wir sind mittlerweile von den kleinen Biestern abhängig. In den Zeiten der elektronischen Kommunikation funktioniert nichts mehr ohne Verschlüsselung. Jedes Mal, wenn man am Automaten Geld abhebt, jedes Mal, wenn man im
Weitere Kostenlose Bücher