Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Titel: Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz
Vom Netzwerk:
über die unterschiedliche Entstehung, Häufigkeit oder Unveränderlichkeit sexueller Interessen zurück, sondern ist eher historisch bedingt. Vereinfacht kann man sagen: Was eine Lobby hinter sich hat, gilt als «sexuelle Orientierung» und ist damit in einigen Ländern durch den Gesetzgeber vor Diskriminierung geschützt.
    Bis ins 19. Jahrhundert galten Abweichungen von der sexuellen Norm, soweit man sie überhaupt auf dem Radar hatte, als schlechte Angewohnheiten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts arbeitete man sich von der Annahme «Sexuelles Fehlverhalten führt zu Geisteskrankheit» allmählich zu «Geisteskrankheit und Degeneration führen zu sexuellem Fehlverhalten» vor. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hingen auch progressive Sexualwissenschaftler dem Glauben an, männliche Homosexualität etwa entstehe durch einen Mangel an Testosteron und lasse sich daher durch die Transplantation «heterosexueller» Hoden heilen. Zur gleichen Zeit entwickelten Freud und seine Nachfolger die These, ungewöhnliche Familienverhältnisse führten zu ungewöhnlichen sexuellen Verhaltensweisen, die jedoch durch Psychoanalyse heilbar seien. Abweichendes Sexualverhalten galt als Zeichen eines «psychosexuellen Infantilismus», bei dem erwachsene Menschen in einer für Kinder normalen Entwicklungsphase steckenbleiben. In den 1930er Jahren vermutete der Mediziner Theo Lang, Homosexuelle seien «Umwandlungsmännchen» und gehörten genetisch dem anderen Geschlecht an – eine These, die zwanzig Jahre später, als man die Geschlechtschromosomen bestimmen konnte, in der Versenkung verschwand.
    Zu den psychoanalytischen Theorien traten in den 1950er Jahren die des Behaviorismus: Ungewöhnliche sexuelle Interessen sollten durch Konditionierung in der Folge bestimmter, gern traumatischer Ereignisse im Kindesalter zustande kommen. Diese Konditionierung werde später durch sexuelle Betätigung verstärkt. Zu den Nachteilen dieser Theorie gehört, dass sich ihr Wahrheitsgehalt am Menschen kaum überprüfen lässt. Und dass sich Tiere im Experiment zu Fetischisten machen lassen, hat nicht viel zu bedeuten. Zum einen tendieren Tiere in Laborsituationen ohnehin zu ungewöhnlichen sexuellen Verhaltensweisen, zum anderen sind die meisten Tiere von Geburt an zoophile Pelzfetischisten. Der Sexualwissenschaftler Brian Mustanski drückt es so aus: «Artspezifische Verhaltensweisen (zum Beispiel Hohlrücken oder Aufspringen bei Ratten) können kein umfassendes Bild der menschlichen sexuellen Orientierung vermitteln.»
    Seit den 1970er Jahren ist allmählich eine Erklärungslücke entstanden: Die früher gängigen Hypothesen sind zumindest dort aus der Debatte verschwunden, wo es um Homosexualität geht. Vom Tisch ist insbesondere die Verführungs- oder Ansteckungstheorie, die oft als Begründung für energisches Einschreiten des Gesetzgebers genannt wurde. Niemand vertritt mehr ernsthaft die Theorie, dass Homosexualität ankonditioniert oder durch ein gestörtes Verhältnis zum gleichgeschlechtlichen Elternteil oder andere Kindheitstraumata ausgelöst wird. In Bezug auf andere sexuelle Verhaltensweisen sind solche Theorien noch gelegentlich zu lesen, aber sie werden wohl den Weg der Homosexualitätserklärungen gehen. Ersatz muss her, aber woher soll er kommen?
    Seit Anfang der 1990er Jahre wird in Medizin und Psychologie allgemein wieder vermehrt «biologistische» Forschung betrieben, die sich nicht mehr primär mit sozialen Einflüssen, sondern mit den Auswirkungen von Genen, Hormonen und Infektionen befasst. Diese Entwicklung hat einerseits mit den heute verfügbaren Untersuchungsmethoden zu tun, andererseits mit dem schwindenden Einfluss der Psychoanalyse. Im Rahmen dieser Trendwende wird auch eine Beobachtung neu erforscht, die schon in den 1930er Jahren Theo Lang zu seiner Theorie vom Umwandlungsmännchen inspiriert hatte: Je mehr ältere Brüder ein Mann hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er homosexuell ist. Dieser Sachverhalt, so albern er zunächst scheinen mag, ist mittlerweile durch knapp 20 Studien gut belegt. Ältere Schwestern haben dagegen keinen Einfluss, und für die weibliche Homosexualität gibt es keinen solchen Zusammenhang. Freud hätte vermutlich behauptet, dass ältere Brüder die Familiendynamik beeinflussen, dagegen spricht jedoch, dass diese älteren Brüder gar nicht anwesend zu sein brauchen, wenn das betreffende Kind aufwächst. Umgekehrt haben anwesende, aber nichtleibliche Brüder keinen

Weitere Kostenlose Bücher