Liberator
sie sich wegen Sachen verrückt macht, die ihrer gar nicht würdig sind. Zu viel Energie, die auf Kleinigkeiten wie Aufräumen und Umorganisieren gerichtet ist. Ich wette, sie wäre ein ganz anderer Mensch, wenn sie ein echtes Betätigungsfeld für ihre Energie hätte. Bei dem, was sie jetzt tun muss, verschwendet sie bloß ihre Fähigkeiten. Denke ich jedenfalls.«
Col folgte Septimus’ Blick durch den Raum zu Gillabeth, die ihre Frustration gerade an einer Matratze ausließ. Mit einem Fuß stieß sie sie an ihren Platz, während sie gleichzeitig Wäsche abnahm, die jemand an einer Leine zwischen zwei Regalen aufgehängt hatte.
Ein echtes Betätigungsfeld für ihre Energie. Vielleicht verstand Septimus ja doch mehr von den Menschen, als er dachte. All die Jahre, die er mit Gillabeth aufgewachsen war, schien sie unbarmherzig kritisch und missbilligend gewesen zu sein. Aber sie war ja auch gefangen in der beschränkten Rolle einer Oberdeck-Frau … und nun war sie die Gefangene anderer Beschränkungen.
Gillabeth hatte inzwischen die Wäsche abgenommen und die Matratze an die richtige Stelle geschoben. Jetzt begann sie die Wäsche ordentlich zusammenzufalten, während sie gleichzeitig die Wäscheleine losmachte.
»Sieh dir nur mal ihr Tempo an«, flüsterte Septimus.
28
Am nächsten Morgen erschien Mr. Gibber und bat um Unterschlupf in der Norfolk-Bibliothek. Gillabeth meckerte und schimpfte, aber gab am Ende nach. Col wiederum wunderte sich. »Wieso sind Sie denn allein?«, fragte er.
»Ich bin nicht allein.« Er schwenkte den Papierkorb, den er im Arm hielt. »Murgatrudd ist bei mir.«
Die Antwort auf die Bewegung war ein tiefes Knurren vom Boden des Korbs. Murgatrudd mochte nicht gestört werden.
»Ich meinte Dr. Blessamy.«
»Dr. Blessamy ist gegangen.« Die Grimasse auf Mr. Gibbers Gesicht sollte wohl so etwas wie Trauer andeuten.
»Das tut mir leid«, sagte Col. »Ich hoffe, er ist friedlich von uns gegangen.«
»Nicht von uns gegangen«, sagte Mr. Gibber und zog eine neue Grimasse. »Gegangen wie verschwunden. Hast du nicht von den Verschwundenen gehört?«
»Welche Verschwundenen?«, wollte Gillabeth wissen.
Mr. Gibber deutete eine Verbeugung in ihre Richtung an. »Oberdeck-Leute, die spurlos verschwinden. Von einem Moment auf den anderen, und niemand hat etwas gehört oder gesehen. Ein Junge aus dem Ghetto auf Deck 38. Eine Mutter aus der Ingenieursgruppe auf Deck 44. Und andere.«
»Und Dr. Blessamy«, sagte Col.
»Auf genau dieselbe Art und Weise. Gestern Abend schlief er wie immer in seinem Ohrensessel. Er hielt sich für Dr. Blessamy III., und ich sagte ihm noch, wenn er Dr. Blessamy III. wäre, dann wäre er bereits seit hundert Jahren tot. Da ist er sofort eingeschlafen.«
»Und dann?«
»Pfff, nichts. Heute Morgen war er weg.«
»Kein Anzeichen eines Kampfes?«
»Nein, gar nichts. Wer steckt wohl dahinter?« Mr. Gibber erhob in einer dramatischen Geste die Arme. »Es ist ein komplettes Rätsel.«
»Das können nur die Rotarmbinden sein«, stellte Gillabeth entschlossen fest. »Wer sonst?«
»Jedenfalls habe ich Angst, in der Akademie zu bleiben, denn heute Nacht könnte es ja mich treffen«, jammerte er. »Ich weiß, dass ich hier sicher bin. Und Murgatrudd. Ich könnte es nicht ertragen, wenn Murgatrudd etwas zustieße.«
Col machte der Litanei ein Ende.
»Wir haben doch schon gesagt, dass Sie bleiben dürfen.«
»Und das ist so großzügig von euch. Ich bin mit jedem Plätzchen, auf das ich mein Haupt betten …«
»Sie werden nehmen, was sie bekommen«, unterbrach ihn Gillabeth.
»Selbstverständlich. Selbstverständlich. Und ich werde höchst dankbar sein.«
Gillabeth ignorierte seine Verbeugungen und Kratzfüße.
»Weiß der Revolutionsrat von den Verschwundenen?«, fragte sie Col.
»Ich bin nicht mehr willkommen bei den Ratsversammlungen.«
»Was ist mit deiner Ratsfreundin? Riff?«
Col schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, wie er erklären sollte, was aus der Beziehung zwischen Riff und ihm geworden war; er verstand es ja selbst nicht.
Jetzt ergriff Mr. Gibber die Möglichkeit, sich wieder an der Unterhaltung zu beteiligen. »Da wir gerade von der Ratsversammlung sprechen … Ich habe ein paar Gerüchte gehört. Auch Riff betreffend.«
»Was?«
»Nun ja«, Mr. Gibber senkte seine Stimme, »dass Riff kaum noch Einfluss hat. Und dass Dunga gar nicht mehr zu den Versammlungen kommt.«
»Sie liegt ja verletzt im Bett«, fügte Col ein.
»Warum auch immer. Es
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