Liberator

zusammengesunkenen Gestalt und leeren Augen begriff Col sofort. Dies musste Riffs Mutter sein.
    »Ich habe immer in Erinnerung behalten, wie du mir von deiner Mam und deinem Pa erzählt hast. Wie die Protzer sie mit dem Haken hochgeholt und zu Gesindlingen gemacht haben. Also habe ich Shiv auf sie angesetzt. Los, Shiv, erzähl es ihr!«
    Shiv schien es nichts auszumachen, so herumkommandiert zu werden.
    »Erst wusste ich nich, wonach ich suchen sollte, aber das Haar hat es natürlich einfach gemacht.« Er zeigte auf das gescheckte Haar des einen Gesindlings. »Also hab ich sie beobachtet und dann gemerkt, dass immer derselbe Gesindling in ihrer Nähe war.«
    Selbst jetzt standen die beiden Gesindlinge sehr eng beieinander. Sie berührten sich fast. Shiv griff nach dem Kinn des weiblichen Gesindlings und drehte es langsam nach links und rechts. Er verglich ihre Züge mit denen Riffs.
    »Hab ich’s mir doch gedacht«, sagte er.
    »Nicht anfassen«, flüsterte Riff.
    Shiv ließ seine Hand fallen, aber führte seine Untersuchung fort. »Selbe Mundform«, sagte er, »dasselbe Kinn. Ich hab recht, nich?«
    »Sei still!«, sagte Riff, noch immer flüsternd.
    Sie blickte von einem Gesindling zum anderen. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu entschlüsseln. Furcht? Hoffnung? Sehnsucht? Schmerz? Col wusste es nicht.
    Als sie endlich etwas sagte, sprach sie die beiden mit sanfter Stimme an: »Hallo. Ich bin eure Tochter. Erinnert ihr euch an mich?«
    Natürlich konnten sie nicht antworten. Ihre einzige Reaktion war, noch enger zusammenzurücken. Ob es noch einen Funken Erinnerung in ihnen gab?
    »Könnt ihr euch an irgendetwas erinnern?« Riffs Stimme war kaum hörbar, so, als ob sie zu etwas extrem Verletzlichem spräche. Der Rest der Welt hatte für sie aufgehört zu existieren.
    »Nickt mit den Köpfen, wenn ihr euch erinnert«, sagte sie.
    Die zwei Gesindlinge nickten. Col hielt den Atem an. Er hatte eine Operation in der Korrekturkammer beobachtet, gesehen, wie die Dämpfer eingepflanzt wurden: dünne Metallplättchen in der Größe eines Knopfes. Er erinnerte sich, wie seine Großmutter Ebnolia gesagt hatte, dass es gut sei, die Dämpfer einzusetzen, denn … sie haben so viel mehr Gedanken, als sie wirklich brauchen, und die bösen großen Gedanken dämpfen wir.
    »Nickt mit den Köpfen, wenn ihr euch nicht erinnert«, sagte Riff.
    Wieder nickten die Gesindlinge.
    »Legt eure Hände auf den Kopf.«
    Langsam und ungeschickt taten sie wie ihnen geheißen.
Es gab keinen Funken Erinnerung in ihnen! Riff war sehr
blass geworden und sah elend aus. Sie starrte die beiden weiter an, ihre Brust hob und senkte sich. Dann brach der Sturm los.
    »Warum?« Sie wirbelte herum zu Lye und Shiv und schrie aus vollster Lunge. »Wie konntet ihr das tun?«
    Shiv duckte sich vor ihrer Wut. »Wir dachten … wir wollten nicht …«
    Aber Lye war aus härterem Holz geschnitzt. »Wir haben es dir zuliebe getan.«
    Riffs Lippen gaben ihre Zähne frei, und für einen kurzen Moment sah sie wie ein Raubtier aus. »Ihr müsst verrückt sein! Wie könnten sie sich denn an mich erinnern? Was habt ihr denn erwartet?«
    »Nichts«, gab Lye zurück. »Wir wollten nur, dass du es auch siehst. Du musst die Realität akzeptieren.«
    »Erzähl du mir nicht, was ich zu akzeptieren habe!«
    »Die Wahrheit. Das, was deinen Eltern angetan worden ist. Du bist nie vor irgendetwas in deinem Leben zurückgeschreckt – außer vor dieser Wahrheit. Du hast gewusst, dass sie noch am Leben sein könnten, deshalb hast du dich vom Gartendeck ferngehalten. Du wolltest es nicht wissen.«
    Riff schien kurz davor zu explodieren, und Col hoffte darauf. Ihr Mund öffnete sich, aber kein Wort kam heraus.
    »Es ist deiner einfach nicht würdig«, Lye stand da, sehr aufrecht und unerbittlich, »den einfachen Weg zu gehen. Passt nicht zu dir. Du bist besser! Duck dich nicht weg! Sei hart! Akzeptier den Schmerz. Sei klar und stark und eins mit dir!«
    Lye war auf jeden Fall klar und stark und eins mit sich, während ihre Stimme den ganzen Raum erfüllte. Sie war hart und unbeweglich wie eine Klinge – und es war Riff, die zusammenbrach. Plötzlich flossen Bäche von Tränen über ihr Gesicht, und sie rang nach Atem.
    Lye zeigte auf die Gesindlinge. Sie hatten sich nicht bewegt, kaum einmal geblinzelt.
    »Das ist die Wahrheit«, sagte sie zu Riff. »Brenn sie dir in dein Hirn ein! Vergiss sie nie! Lebe danach! Denk an das unverzeihliche Unrecht, das deiner Mam und deinem Pa angetan