Liberator
worden ist. Die unverzeihliche Grausamkeit!«
»Hör auf!«, sagte Col.
Er wusste selbst kaum, dass er gesprochen hatte. Er fühlte den Schmerz mit Riff, er konnte kaum hinsehen, wie sie von Trauer überwältigt war, ihr Gesicht völlig verzerrt. Er wollte einfach, dass ihr Schmerz ein Ende fand.
Lye drehte sich zu ihm um. »Ah! Der Protzer möchte, dass ich aufhöre. Das könnte ihm so passen. Damit alles unter den Teppich gekehrt wird, vergessen wird. Das würde ihm so passen!«
»Was du machst, ist grausam!«, fuhr Col sie an.
»Ich mach gar nichts. Ich zeige nur, was ihr gemacht habt. Wie ihr Menschen zu Idioten gemacht habt.«
»Ich wusste nichts von der Korrekturkammer.«
»Natürlich nicht. Niemand wusste etwas davon!« Lye glühte vor Verachtung. »Du kannst dich da nicht rauswinden. Der lebende Beweis steht vor uns. Und es wird nie vergessen werden. Nicht von mir! Nicht hier drinnen.« Lye zeigte auf ihren Kopf. »Und nicht von ihr!« Sie zeigte auf Riff.
Riff war vor Schock erstarrt, sie atmete kaum noch. Col appellierte an sie. »Ich wusste nichts von der Korrekturkammer, du weißt …«
»Halt die Schnauze!« Riff spuckte die Worte in sein Gesicht.
»Du musst dich doch erinnern!« Er konnte nicht aufhören. »Ich habe dich vor der Operation gerettet!«
»Ihr habt es getan! Ihr alle! Ihr seid alle schuldig!«
»Nein. Hör mir zu!«
»Ich will dir nicht zuhören! Ich werd dir nie wieder zuhören. Ihr habt meine Mam und meinen Pa zu Idioten gemacht. Ihr und eure Operationen! Ihr und eure Dämpfer.«
Col schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück.
»Du bist einfach nur wütend. Du merkst gar nicht, was du redest. Das kann ich verstehen.«
Riff trat auf ihn zu. »Dann verstehst du auch das!«
Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Col fühlte sich, als ob ihm der Fußboden unter den Füßen weggezogen würde. Es war nicht der Schmerz; er nahm kaum wahr, dass seine Wange wie Feuer brannte. Es war die Art, wie Riff ihn ansah und trotzdem durch ihn hindurchschaute. Col Porpentine hatte aufgehört zu existieren. Er war kein Individuum mehr, kein Freund. In ihren Augen stellte er eine ganze Klasse dar, er war bloß ein Vertreter des alten Regimes und einer der Unterdrücker von den oberen Decks.
»Geh mir aus den Augen«, zischte sie. »Bringt ihn weg, bevor ich ihn wirklich schlage.« Im nächsten Augenblick hatten sich alle vier Rotarmbinden um Col versammelt, um ihn wegzuführen.
Er sah noch, wie Lye Riffs Hand ergriff.
Die zwei Gesindlinge standen weiterhin zusammengesunken und teilnahmslos im Raum.
Shiv trug ein triumphierendes Grinsen zur Schau.
Zu spät.
Erst jetzt hatte er ihren Plan verstanden. Sie hatten ihn nicht ohne Grund zu Riffs Kabine gebracht. Er war nicht der Beobachter – er war das eigentliche Ziel ihres Plans. Die Schwäche, die Lye Riff hatte austreiben wollen, war nicht nur ihre Schwäche im Hinblick auf ihre Eltern, es war vor allem ihre Schwäche für ihn. Und Lyes Plan war aufgegangen.
30
Col versuchte sich damit zu beruhigen, dass Riff aus einer Extremsituation heraus gehandelt hatte. Er erinnerte sich daran, wie sie einst gesagt hatte, er solle ihr mehr vertrauen. Und Septimus hatte ihm gesagt, dass er um sie kämpfen sollte – wenn er sie liebte und sie ihn. Aber liebte sie ihn?
Unschöne Bilder spulten vor seinem inneren Auge ab: Lye, die Riffs Hand nahm … Riffs Blick, der durch ihn hindurchging, als ob er nicht existierte. Das hatte er nicht verdient! Lye hatte Riff mit dem Anblick ihrer Eltern absichtlich wehtun wollen. Aber eigentlich gab er Lye keine Schuld, denn es war ja Riff, die offenbar ihm weniger traute als ihr.
In dieser Nacht hatte er einen der schlimmsten Albträume seines Lebens. Er befand sich auf dem Orlopdeck, dem letzten Deck vor Unten. In der Zeit vor der Revolution hatten Riff und er sich hier vor den Wachleuten hinter den riesigen Kohlehaufen versteckt.
In seinem Traum versteckten sich nun Riff und Lye vor ihm hinter den Kohlehaufen. Als er sie sah, rief er und lief auf sie zu. Aber sie schüttelten sich nur und rannten weg. Der Ausdruck von Ekel in Riffs Gesicht war genau derselbe wie in Lyes Gesicht. Später hörte er sie gemeinsam lachen. Er rannte an Rohren und eisernen Brüstungen entlang, bis er zu einem Platz kam, der von blau-weißem Licht erfüllt war. Da waren die beiden wieder – und lachten über ihn. Böses höhnisches Gelächter. Er versuchte sie zu erreichen, aber sie duckten sich hinter den
Weitere Kostenlose Bücher