Liberty 9 - Todeszone
Electoren abzuholen. Und das bedeutete, dass bis dahin jeglicher Widerstand der Guardians gebrochen und Liberty9 gänzlich in ihrer Gewalt sein musste.
Aber was sie in diesen Minuten mehr als alles andere quälte und ihr fast das Herz zerriss, war der unwiderrufliche Verlust eines wunderbaren Traums, den sie so viele Jahre für wahr gehalten hatte. Und der blendende Lichtzauber, der sie jetzt umgab und der sie all die vielen Jahre an ihr Auserwähltsein hatte glauben lassen, brannte ihr den Verlust förmlich ins Bewusstsein.
Wie zum Hohn wechselten die Strahler von vielfarbigem Licht zu reinem, strahlendem Weiß. Die Leuchtfinger umhüllten das Heim der Electoren und ihrer Oberen und ließen den Sandstein so intensiv aufleuchten, als glühte er von innen heraus. Und über dem Gebäude verbanden sich die Strahlen zu einer gigantischen Lichtsäule, die in den Nachthimmel aufstieg und bis tief in den Kosmos zu reichen schien.
Und dann, als sich alle Electoren, Master, Servanten und die beiden Züge Guardians eingefunden hatten, trat Primas Templeton hinaus auf die Plattform.
Das Aufflammen von mehreren Dutzend weiterer Scheinwerfer begleitete sein Erscheinen. Sie kamen aus vier Richtungen: vom riesigen Flachdach des Schwarzen Würfels, vom obersten Ring der Tube und vom Dach des Gym sowie vom Giebeldach der Lichtbasilika. Ihre starken Lichtkegel kreuzten sich mehrfach und bildeten über dem Appellplatz ein strahlend leuchtendes Gitter, das einem hoch gewölbten Dach aus Licht gleichkam. Deshalb wurde es von den Electoren Lichtdom genannt.
Zuletzt setzten die Laserstrahler ein. Sie projizierten unter den weißen Lichtdom den tausendstäbigen Kubus, das allgegenwärtige Hyperion-Symbol. Es rotierte unter der Lichtdecke wie von einer unsichtbaren Hand zum Kreisen gebracht und flimmerte dabei in seinen sich ständig verändernden Spektralfarben.
Die allmorgendliche Lichtorgie war ein grandioses Schauspiel, das die Sinne überwältigte. Perfekt inszeniert und dazu geschaffen, alle anwesenden Jugendlichen mit grenzenlosem Stolz zu erfüllen.
Und wir haben daran geglaubt!
Kendira ballte vor Zorn die Fäuste und kämpfte doch zugleich auch gegen Tränen der Wehmut an. Fast wünschte sie, nie die hässliche Wahrheit erfahren zu haben. Dann hätte sie sich jetzt völlig unbeschwert nur mit der bittersüßen Frage auseinandersetzen müssen, zu wem ihr Herz stärker entbrannt war– zu Carson oder zu Dante.
Erhabene Macht, wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, in diesen seligen Zustand der Ahnungslosigkeit zurückzuflüchten! Wenn doch alles so wäre wie noch vor wenigen Wochen!
Es erschütterte sie, als sie sich bei diesem selbstmörderischen Gedanken ertappte. Welch eine berauschende Droge, mit der man ihr Hirn all die Jahre vergiftet und sie süchtig gemacht hatte! So süchtig, dass sie selbst jetzt noch, nach allem was sie über die verlogene Welt von Liberty9 erfahren hatte, unter heftigen Entzugsschmerzen litt und zu solch einem Gedanken fähig war!
Nur verschwommen nahm sie die hagere, weißgewandete Gestalt des Primas zwischen den Rotkutten wahr. Doch nicht er, sondern Prinzipal Whitelock, seine rechte Hand und ein ähnlich scharfer Hund wie Sherwood, führte sie an diesem Tag durchs Morgenlob.
» Gelobt und gepriesen sei die Erhabene Macht! « Whitelocks nasale Stimme hallte aus den Fassadenlautsprechern links und rechts des Portals herab.
» Gelobt und gepriesen sei die Erhabene Macht! « , antwortete die Versammlung wie aus einem Mund. Es klang wie Donnerhall über den Platz.
» Söhne und Töchter des Lichts, treue Diener der Erhabenen Macht und unverbrüchliche Gefolgschaft Hyperions, seiner hochwürdigen Exekutive auf Erden, ihr seid das Licht der Welt! « Die Berghänge warfen Whitelocks Worte als Echo zurück. » Lasst uns den neuen Tag mit Demut und Dankbarkeit, aber auch mit Freude und der unerschütterlichen Entschlossenheit beginnen, unserem hohen Auftrag gerecht zu werden und unablässig danach zu streben, in diesem Dienst nie müde zu werden! «
» Das geloben wir! « , schallte es unverzüglich aus Hunderten von Kehlen zurück. Das war das übliche Wechselrezitativ.
» So lasst uns denn gemeinsam das Morgenlob und Treuegelöbnis sprechen! «
Kendira presste die Zähne zusammen. Sie starrte hinauf zu Templeton. Der Primas stand nicht wie gewöhnlich in gestraffter Haltung und mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf derPlattform, sondern die Arme baumelten ihm wie kraftlos anden Seiten
Weitere Kostenlose Bücher