Liberty 9 - Todeszone
die nach ihr griff. Erst glaubte sie, Indigo suchte in seiner Todesangst Halt bei ihr. Doch dann sah sie, dass Dante sich vorgebeugt und ihre Hand ergriffen hatte. Er drückte sie ganz fest und rief ihr etwas zu, aber seine Worte erreichten sie in dem lauten, albtraumhaften Tumult um sie herum nicht. Sie sah nur die Bewegung seiner Lippen und den beschwörenden Ausdruck in seinen Augen, und sie glaubte zu wissen, was er ihr in diesen wohl letzten Augenblicken ihres Lebens unbedingt noch sagen wollte.
Weil sie zu ihm nach vorne blickte, sah sie Sekunden später auch den schiefen Fabrikturm, der wie ein gigantischer geknickter Halm aus Stahl aussah und geradewegs auf sie zuzufliegen schien.
Der Pilot riss am Stick und trat in die Pedale in dem verzweifelten Versuch, dem Turm auszuweichen. Es gelang ihm, einen frontalen Zusammenstoß zu verhindern, aber sie streiften doch eine hervorspringende Metallstrebe.
Die Scheibe auf der rechten Seite der Kanzel zerbarst mit einem lauten Knall. In ihn mischte sich der Todesschrei des Copiloten, der in seinem Sitz herumgerissen wurde und dann leblos zur Seite wegsackte. Metall kreischte, als die Stahlstrebe über die Außenhaut kratzte und sie auffetzte wie ein Dosenöffner eine Konservendose.
Der Helikopter wurde nach links geschleudert. Er prallte mit der Pilotenseite auf das Metalldach einer nahe stehenden Fabrikhalle, wurde wie ein Spielzeug herumgeschleudert, mit abbrechenden Rotorblättern um seine eigene Längsachse gewirbelt und wieder in die Luft katapultiert.
Wie in Zeitlupe sah Kendira, dass sich eine ihrer schweren Alukisten beim Aufschlag aus ihrer Bodenhalterung und den Gurten losgerissen hatte. Wie ein Geschoss flog die Kiste durch die Kabine– und zwar direkt auf sie zu!
Sie hielt noch immer Dantes Hand, als der Helikopter einen Wimpernschlag später hinter der Fabrikhalle aufschlug. Ihr war, als fegte eine dichte Hagelwolke aus Steinen durch die zertrümmerten Scheiben der Pilotenkanzel. Tausend Nadeln bohrten sich in Gesicht, Hals und Arme.
Noch nicht mal vierundzwanzig Stunden wirklich frei und schon ist alles verloren! Und nicht nur die Freiheit!
Das war ihr letzter Gedanke. Dann explodierte eine schwarze Sonne hinter ihren Augen und löschte jegliches Denken und Empfinden in ihr aus.
33
Langsam und nur widerstrebend kam Kendira zu sich. Ein Teil ihres Ichs wehrte sich dagegen, den gnädigen Schutz der Bewusstlosigkeit zu verlassen und sich der Wirklichkeit zu stellen. Jener Teil, der schon die zu erwartenden Schmerzen und Bilder des Schreckens um sich herum erahnte.
Es waren jedoch weder Schmerzen noch visuelle Eindrücke, was sie als Erstes bewusst wahrnahm, als die Ohnmacht sie zögerlich freigab. Vielmehr registrierte sie zuerst Wimmern und Stöhnen und halb erstickte Schreie, verbunden mit ekelhaften Gerüchen. Dabei handelte es sich um ein Gemisch aus beißendem Rauch, verschmorten Kabeln, Blut, Erbrochenem, Fäkalien und Flugbenzin.
Zudem schmecke sie Sand im Mund.
Als Nächstes setzte die Erinnerung ein, zögerlich, bruchstückhaft und in kurzen Schüben. Es war ein Erinnern wie mit angezogener Bremse.
Wir sind abgestürzt.
Über der Dunkelwelt.
Bin ich tot?
Die Antwort erfolgte den Bruchteil einer Sekunde später, als der Schmerz sich bemerkbar machte. Er traf sie wie ein glutheißer Strahl aus dem Rohr eines Flammenwerfers und schoss ihr durch die Brust. Ein ähnlicher, wenn auch mehr dumpfer Schmerz meldete sich im Kopf mit pochendem Hämmern.
Seltsam, ich scheine noch zu leben.
Oder es stimmt nicht, was man über den Tod sagt.
Nämlich, dass man dann gar nichts mehr fühlt.
Kendira schlug die Augen auf. Sie hatte Mühe, ihren Blick zu fokussieren. Einige Sekunden lang sah sie alles verschwommen, und ihr war, als würde sie in einem grauen, stinkenden Meer treiben. Diffuses Dämmerlicht umgab sie. Und als ihr Blick endlich klarer wurde, weigerte sich ihr Verstand einige Sekunden lang, die auf sie einstürzenden Bilder anzunehmen und zu verarbeiten.
Sie hing in ihren Gurten. Ihr rechter Arm fühlte sich taub an, doch gebrochen schien er nicht zu sein. Jedenfalls konnte sie ihre Finger bewegen. Neben ihr ragte eine Aluminiumkiste schräg vom Boden auf. Indigo hing mit tief eingedrücktem Brustkorb über dem oberen Ende. Sein Kopf war ihr zugewandt. Blut rann aus seinem offen stehenden Mund. Leblose Augen starrten an ihr vorbei ins Leere.
Ein Teil der Bordwand hinter Indigo fehlte. Dort hatte Dante gesessen. Es fehlte auf ihrer
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