Liberty 9 - Todeszone
Aber da der Fahrer nach jedem Zuruf abrupt die Richtung änderte, lag es auf der Hand, dass es darum ging, ihre Verfolger abzuschütteln.
Die Minuten wurden Kendira und ihren Gefährten lang. Dann nahm der Mann das klobige Sprechfunkgerät vom Ohr, drehte sich zu seinen Gefährten auf den verschlissenen Sitzbänken um und hob den Daumen.
» Abgehängt! « , rief er in den Bus. » Die verfluchte Bande ist links die Massacre Alley runter! Die glauben wohl, wir hätten uns in Richtung Hell’s Corner abgesetzt! «
Seine Kameraden antworteten auf den Zuruf mit befreitem Gelächter. Die Sicherungen an Gewehren und Handfeuerwaffen wurden umgelegt, und obwohl die Männer weiterhin aufmerksam nach draußen spähten, wurde nun wieder geredet.
» Massacre Alley und Hell’s Corner? « , stieß Nekia erschrocken hervor. » Was sind das denn für Namen? «
Liang, der vor ihnen saß, drehte sich um. » Es sind Namen, die einen daran erinnern, was man in diesen Vierteln zu erwarten hat! Und das sind noch längst nicht die übelsten Gegenden. Willkommen in der Dunkelwelt! «
37
Kendira saß am Fenster des Steamers und versuchte, sich einen Eindruck von der Umgebung zu verschaffen, durch die sie fuhren. Der schmale Spalt zwischen den Metallstreifen und die schlechten Lichtverhältnisse machten es jedoch unmöglich, mehr zu erhaschen als nur flüchtige Sekundenblicke auf Ruinen.
Von manchen Gebäuden standen nur noch Teile der Fassaden. Hier und da leuchtete das einsame Licht einer Lampe oder eines Feuers in dem dunklen Rechteck eines glaslosen Fensterlochs auf. Es huschten von Unkraut überwucherte Trümmerberge und immer mal wieder einige Reihen windschiefer Hütten aus Brettern und Wellblech vorbei, begleitet von Rauchwolken. Straßenlaternen gab es nirgends, dafür überall offene Feuer.
Wiederholt tauchten in ihrem schmalen Blickfeld ausgebrannte Fahrzeuge aller Art am Straßenrand auf. Manche lagen halb unter Schutt begraben, während andere Wracks, die wie Reisebusse und Straßenbahnwaggons aussahen, offenbar bewohnt waren. Dann wieder flogen halb eingestürzte Mauern mit unlesbaren Graffitis an ihr vorbei, begleitet von aufgebrochenen Asphaltdecken und Gehwegen, aus denen Gras und niedriges Gesträuch wuchs.
Aber die Dunkelwelt war nicht ausgestorben, sondern es wimmelte förmlich in ihr von Leben, das war selbst durch den Schlitz zu erkennen. Ständig erhaschte sie einen kurzen Blick auf abgerissene Gestalten, die um ein Kochfeuer hockten, Abfall durchwühlten, Metallteile schleppten, sich an schweren Gittern zu schaffen machten, die offenbar zu Werkstätten oder Geschäften gehörten, und überall aus den Ruinen auftauchten. Auf einem der freien Plätze sah sie vor einem großen Zelt sogar eine lange, gewundene Schlange abgerissener Gestalten jeden Alters. Doch die meisten Menschen, auf die ihr Blick flüchtig fiel, bewegten sich wie Schatten durch die Trümmerwelt, als scheuten sie das Licht, die Begegnung mit anderen Menschen– oder beides.
Auf einmal bremste der Steamer und fuhr dann langsam weiter, während er einer langen Linkskurve folgte. Barrikaden aus Betonblöcken verengten zu beiden Seiten die Fahrbahn und zwangen den Fahrer kurz zu einem Schritttempo. Das gab Kendira sowie Dante und Zeno, die hinter ihr auf ihrer Gangseite die Fensterplätze belegten, die Gelegenheit, sich die Gegend vor ihnen etwas genauer anzusehen.
Angestrengt spähte Kendira durch den Spalt aus dem Fenster. Einige wenige Sekunden lang wurde ihr Blickfeld von einer langen Reihe von Hochhäusern eingenommen. Sie bildeten ein auf dem Kopf stehendes L, wobei die lange senkrechte Linie aus mindestens zwölf Gebäuden schräg auf sie zulief. Vor den Gebäuden erstreckte sich ein weites, freies Feld. Früher war es vielleicht einmal ein Park gewesen. Jetzt sah es mit seinen ordentlich ausgerichteten Beeten, Spalierstangen und Grüngewächsen wie ein Gemüsefeld aus, das von Buschreihen, Seilen und Drahtgespann sowie niedrigen Hecken und Lattenzäunen in viele verschieden große Parzellen unterteilt wurde. Hier und da wuchsen sogar einige Bäume.
Die Architektur der dahinterliegenden Siedlung aus Wohnhäusern war denkbar schlicht, ja primitiv. Es handelte sich um längliche einförmige Kästen, ehemals wohl preiswerte Wohnkasernen für Minderbemittelte. Sie alle erhoben sich dreißig Stockwerke hoch in den sich nun rasch aufhellenden Himmel.
Schwer beschädigt waren sie alle. Einige von den näher stehenden Gebäuden waren sogar
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