Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
sie sorgfältig über Liberty Bell, die tief schlief, und nahm sich selbst eine dünne, mehr fadenscheinige Wolldecke, die über einer Lehne des alten Sofas lag, das in einer Ecke stand. Er wickelte sie, so gut es ging, um seinen verspannten Körper und war froh um jede Distanz, die er zwischen sich und das schlafende Mädchen schaffen konnte. Dabei sehnte er sich so danach, sie zu berühren, seinen Arm um ihre schmale Taille zu legen, ihre weichen sandfarbenen Haare zu berühren…
Auf einmal war er sehr wach. – Denn in diesem Moment kam er darauf, was es war, was da die ganze Zeit in ihm bohrte, warum er sich auf einmal so beklommen fühlte, wenn Liberty Bell in seiner Nähe war, wenn sie ihn berührte oder ansah…
Ja, ansah…
Es waren ihre Augen.
18
U m acht Uhr hielt Ernesto es nicht mehr aus und rief Sally an. Er hatte es nicht mehr geschafft einzuschlafen, nachdem er gegen vier Uhr frierend aufgewacht war. Wenn es stimmte, was er annahm… – Aber nein, das konnte einfach nicht sein, war völlig unmöglich…
Er fühlte sich völlig verspannt, sein Nacken schmerzte bei jeder Bewegung.
»Habe ich dich geweckt, Sal?«, erkundigte er sich mit gedämpfter, hastiger Stimme, als Sally das Gespräch annahm, und rieb sich mit der freien Hand den Nacken.
»Nein, ich bin schon lange auf«, antwortete sie und pfiff. »Ich bin mit Butterfly unterwegs, wir können reden…«
Und dann berichtete sie ihm ohne lange Vorreden, was Jadens Bruder Otis ihr erzählt hatte.
Ernesto sank auf die niedrige Fensterbank, fuhr sich durch die wirren Haare und lauschte. Mose und Ronan schliefen noch, aber Liberty Bell war, wie es schien, draußen unterwegs. Sie musste aufgewacht sein und hatte sich angezogen und davongeschlichen, ohne dass er es mitbekommen hatte. Sie hatte ihm einen Zettel dagelassen und geschrieben, dass er sich keine Sorgen machen solle, sie sei Beeren sammeln zum Frühstück. Es sei jetzt eine gute Zeit für Beeren. Zum ersten Mal hielt er handgeschriebene Worte von ihr in der Hand… Ihre Schrift war etwas eigenwillig, aber sie schrieb völlig fehlerfrei. Annie Lyford hatte vielleicht bei ihrem kleinen Sohn grauenvoll versagt, aber für Liberty Bell hatte sie, keine Frage, gut gesorgt. In jeder Beziehung.
»Jaden hat was gefunden?«, fragte er jetzt nach.
»Das Tagebuch«, sagte Sally. »Otis war ganz sicher. Ein Tagebuch von Ruby Kyriacou.«
Er konnte es nicht glauben. »Und wie, bitte sehr, soll dieses Tagebuch ausgerechnet in die Garage der Franklins gekommen sein? Hat Otis dafür vielleicht auch eine Erklärung?«
»B & K«, erklärte Sally. Windgeräusche drangen neben ihrer Stimme durch das kleine Telefon.
»B & K?«, wiederholte Ernesto. »Was zum Teufel ist das denn?«
»Bring und Kauf, das kennst du doch, oder?«, erklärte Sally. »Dieses Pfadfinderding, ein Wohltätigkeitsbasar. Man gibt seinen alten Kram ab und kauft dafür anderen alten Kram…«
Ja, da war etwas… Ernesto begann, sich schemenhaft zu erinnern. Es war Mrs Franklin höchstpersönlich, die diese B&K-Basare organisierte. Zu Ostern und zu Weihnachten, etwas in der Art.
»Ja und?«, hakte er nach.
»Mrs Kyriacou liebt diese Bring-und-Kauf-Basare, Ern«, fuhr Sally fort. »Sie spendet jedes Mal eine ganze Menge Kram aus ihrem Haus. Man kann ja alles geben. Möbel, Geschirr, Bilder, praktisch jeden Schnickschnack, und Otis sagte mir, auf der Rückseite von irgendeinem hässlichen Bilderrahmen, der beim letzten B & K übrig geblieben ist, klemmte eben dieses Schulheft. Rubys Name stand drauf. Sie muss es dort versteckt haben…«
»… vor dem Rest der Miseryfamilie, natürlich«, murmelte Ernesto und nickte.
»Nenn sie doch nicht immer so«, sagte Sally eine Spur unwillig.
»Und? Was stand drin?«
Ernesto streckte den Arm aus, als Liberty Bell ins Zimmer trat, und zog sie leicht an sich. Sie roch nach frischer Luft und fühlte sich kühl an. Ihre Fingerspitzen waren lila von Beerensaft und sie stellte einen Teller Brombeeren auf den Tisch. Sie lächelte ihm zu, während Ernesto beim Anblick ihrer Augen ein mulmiges Gefühl beschlich. Er versuchte, sie genauer zu fixieren und gleichzeitig, genau das zu vermeiden.
»Das weiß Otis leider nicht«, gab Sally in diesem Moment zu. »Er sagte nur, dass Jaden sich in das Heft ziemlich vertieft hat, und danach irgendwie – komisch war…«
»Irgendwie komisch? Inwiefern?«
»Das konnte Otis nicht so gut erklären«, sagte Sally und pfiff erneut nach ihrem Hund.
»Ist das
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