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Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Titel: Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Rosen
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Jadens idiotischer, entsetzlicher, kaum zu fassender Unfall… Was genau hatte Jadens Bruder Otis zu Sally gesagt, dass sie es merkwürdig fand und deshalb um Rückruf bat? Und – vielleicht die wichtigste Frage von allen – was war dem alten Flavio zugestoßen? Sein ganzes Zimmer war voller Blut gewesen, hatte Baz berichtet. Bis an die Zimmerdecke war es gespritzt. So hatte es auch in der Zeitung gestanden. Und daneben hatte eine lächelnde Fotografie von Flavio geprangt. Wer hasste den guten Menschen von Old Town so sehr, dass er ihn auf diese Weise tötete? So war der Artikel über den Mord an Flavio betitelt gewesen.
    »Ernesto, was ist?«, fragte Liberty Bell in diesem Moment erschrocken und betrachtete die Tränenspur, die plötzlich über sein Gesicht lief.
    Ernesto zuckte wie ertappt zusammen, richtete sich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
    »Ich weiß nicht. Alles ein bisschen viel, vielleicht«, murmelte er verlegen. »Jadens Tod. Meine Mom, die inzwischen völlig abdriftet. Manchmal habe ich das Gefühl, sie wird tatsächlich allmählich verrückt… Und dann der alte Flavio, der so schrecklich abgeschlachtet wurde. Das alles…«
    Irgendwann gingen sie schlafen. Mrs Blue hatte für Liberty Bell das kleine Gästezimmer im Obergeschoss zurechtgemacht und für Ernesto eine Besucherliege in den Wohnraum hinter der Veranda gestellt, aber Liberty Bell wollte nicht alleine schlafen. Stumm legte sie sich neben Ernesto auf das schmale Ausklappbett. Er lächelte ihr eine Spur beklommen zu und schaltete ebenso stumm das kleine Nachtlicht aus, das Mrs Blue für ihn auf den Wohnzimmertisch gestellt hatte. Schon im nächsten Moment spürte er Liberty Bells warme Hände, die sich tastend unter sein T-Shirt schoben. Ihre Lippen suchten sein Gesicht.
    Von einer Sekunde zur nächsten spürte Ernesto seinen Herzschlag im ganzen Körper. Jetzt alles vergessen. Einfach passieren lassen, was passieren würde. Liberty Bell – wie an diesem Nachmittag am Cedar Creek – ganz nah kommen. Erneut ihren Körper spüren, ihren Atem in seinem Gesicht. Den Duft ihrer Haut…
    Aber: Nein, es ging nicht. – Ernestos Herz krampfte sich zusammen. Verdammt, was war nur los mit ihm? Die Sache mit Sally Hensley im vergangenen Jahr war gescheitert, weil… Ja, warum eigentlich? Irgendwie hatte er nicht so wahnsinnig viel für sie empfunden. Dabei mochte er sie, mochte sie wirklich gerne. Aber er war nicht verliebt gewesen. Sally und er waren einfach nur gute Freunde. Und sie hatten miteinander geschlafen, einmal, und es war okay gewesen. Das erste Mal für sie beide. – Doch mit Liberty Bell war es anders. An sie dachte er Tag und Nacht. Immerzu. Warum nur spürte er auf einmal diese merkwürdige Distanz? Es war wie ein Kampf zwischen seinem Kopf und seinem Körper.
    Was war da nur ins Rollen gekommen, seit Ronan Liberty Bell im vergangenen Frühling auf einer seiner einsamen Radtouren durch das Chinook Valley mitten im Wald aufgespürt hatte?
    »Gute Nacht, Waldmädchen«, flüsterte Ernesto schließlich mit heiserer Stimme in die Dunkelheit hinein, die sie jetzt umhüllte. Er schob mit kalten Fingern Liberty Bells Hände zurück. »Ich… ich schwöre dir, alles wird gut. Irgendwie und irgendwann… Ich bin einfach im Moment…«
    Liberty Bell richtete sich auf. »Was ist los? Warum – schiebst du mich von dir?«, flüsterte sie zurück. Ihre Stimme klang betroffen und verletzt.
    Ernesto blieb liegen, ohne sich zu rühren.
    »Ernesto? Bitte. Sag etwas.« Jetzt klang ihre Stimme flehend.
    Ernesto suchte nach den richtigen Worten, wenn es die überhaupt gab. »Es ist nicht, wie du denkst«, sagte er schließlich leise. »Ich meine, es ist nicht, dass ich dich nicht will, das wäre ja völlig verrückt. – Aber…«
    »Was aber?«, drängte Liberty Bell verwirrt.
    Ernesto presste in der Dunkelheit fest die Handballen gegen seine brennenden Augen. Eine gefühlte Ewigkeit war es ganz still.
    »Ich… ich verstehe es selbst nicht …«, sagte er schließlich. »Ich… Verdammt, Liberty Bell, ich weiß auch nicht, was los ist mit mir…«
    Mehr sagte er nicht.
    Kurz vor dem Morgengrauen wachte Ernesto auf, weil es kalt im Zimmer war. Die beiden kleinen Fenster, die sie am frühen Abend geöffnet hatten, um die stickige Luft aus dem Raum zu vertreiben, standen immer noch offen, ebenso die Tür zur Veranda, und jetzt wehte die Nachtluft kalt hindurch. Ernesto zog die Decke, die zu Boden gefallen war, wieder hoch, legte

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