Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
nickte, während er die Liste der Anrufer durchging. »Baz, natürlich, und Dr. Bolino, Leslie, mein Vater – und Sally und Darayavahush…«
Sally hatte außerdem eine längere Nachricht via SMS geschickt.
Ich nehme an, ihr seid so was wie untergetaucht?, schrieb sie. Vielleicht besser so. Leute vom Jugendamt waren in der Klinik. Und die Polizei. Und Salvadors Vater. Sie ahnen natürlich, dass L. B. mit dir unterwegs ist! Wenn sich was Neues ergibt, melde ich mich! – Und da ist noch was, Ern: Ich habe zufällig Otis getroffen, Jadens Bruder. Er hat mir was sehr Merkwürdiges erzählt! Ruf dringend mal an… Sal
»Ein Brief am Telefon«, staunte Liberty Bell, als Ernesto ihr den Text vorgelesen hatte. »Es gibt so viel, was ich nicht weiß.«
Ernesto warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Mist, es ist weit nach Mitternacht. Zu spät zum Zurückrufen. Was Otis wohl erzählt hat?«
Sie begannen, über Jaden zu reden.
»Er wollte… etwas von dir?«, fragte Liberty Bell nachdenklich. »Kurz bevor er – gestorben ist?« Noch immer sprach sie mit dieser seltsam gepressten Stimme, aber inzwischen waren ihre Sätze so flüssig, dass Ernesto leicht hätte vergessen können, wie sie aufgewachsen war. Und einige ihrer sprachlichen Eigenarten machten die Gespräche mit ihr sogar zu etwas ganz Besonderem.
»Ich mag es, dass sie so oft den erzählenden Imperfekt benutzt«, hatte er Sally vor ein paar Tagen anvertraut. »Ich könnte ihr stundenlang zuhören.«
Sein Kopf lag in ihrem Schoß. Sie waren auf der Veranda, dicht an Ronans Knock-Knock-Tür. Die Nacht war warm, aber windig.
»Ich dachte die ganze Zeit, Jaden ginge es immer noch um die Sache mit Cal Wyludda«, erwiderte er. »Dass er sich einfach wieder bei uns einklinken wollte. Aber vielleicht war es auch etwas anderes… Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass da noch etwas anderes gewesen sein muss…«
Ernesto musste wieder an die Sache mit Jadens Rad denken… also ich laufe, wenn ich zu Fuß unterwegs bin. Und ich fahre, wenn ich mein Bike dabeihabe! Alles andere ist doch Blödsinn! Mit seinem Bike geht man doch nicht spazieren…
Genau das hatte er gesagt – und dennoch hatte Jaden sein Rad an diesem Tag über den Gehweg geschoben, die ganze Straße lang, mindestens zwölf Blocks weit, das hatten Passanten berichtet. Und auf diese Weise hatte er auch die Straße überquert. Warum hatte er nicht auf den Verkehr geachtet? Warum war er einfach losgelaufen und praktisch ins erstbeste Auto gerannt, das ihn erwischen konnte? Das ergab doch keinen Sinn… Verdammt, Jaden fehlte ihm. Und er wünschte sich sehnlichst, dass er ihm damals wenigstens einen Moment zugehört hätte.
Liberty Bell streichelte Ernestos Stirn und berührte seine Wimpern mit den Fingerspitzen, aber auch sie schwieg und war in Gedanken versunken. Wahnsinnig gerne hätte er seine Arme um sie geschlungen wie an diesem Nachmittag am Cedar Creek, hätte seinen Mund auf ihren gelegt, sie geküsst, gespürt – und mehr. Aber erstens schliefen Mose und Ronan nur ein paar Meter weiter, im ersten Zimmer gleich hinter der hölzernen Veranda, und auch Mrs Blues Zimmer war nicht viel weiter weg. Und im Grunde war es nicht das… Es waren vielmehr Ernestos Gedanken, die kreisten und kreisten und sich in seinen Kopf bohrten, als hätten sie dort irgendwo einen eisernen Widerhaken.
Seine Mutter – verdammt, was war wirklich los mit ihr? Und Chazza? Was hatte er genau sagen wollen, als er im Krankenhaus aufgewacht war und so dringend nach ihm verlangt hatte? Er hatte vom Santa-Clara-Steinbruch gesprochen, in den er gestürzt war, ebenso wie vor vielen Jahren sein Vater, aber Chazza hatte eindeutig das Wort gestoßen gebraucht in diesem Zusammenhang. Und immer wieder hatte er gestammelt: nicht natürlich… und dann hatte er noch von einer Katze gesprochen.
Hatte er doch nur fantasiert? Oder verbarg sich hinter diesen Wortfetzen eine Botschaft, die etwas bedeutete? Außerdem war da die Sache mit dem Sauerstoffschlauch an seinem medizinischen Versorgungsapparat. Was, wenn es doch nur ein Versehen gewesen war? Möglich war das. Ernestos Vater stöhnte oft über die Nachlässigkeit einzelner Krankenschwestern, besonders wenn es ungelernte Hilfskräfte waren, und genau die gab es im General Hospital zuhauf. – Andererseits schien die Polizei den Vorfall ernst zu nehmen. Warum sonst hätten sie Chazza seit diesem Vorfall bewachen lassen?
Und wieder – immer wieder
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