Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
ist nicht da. Er – er hat ein Baseballspiel in Village. Was – was wollt ihr denn von ihm?«
Ehe jemand dazu kam, eine Antwort zu geben, ging eine jähe Veränderung durch Mrs Franklin, die womöglich nie wieder jemand Ms Peach nennen würde. Alles Samtene, Weiche, Fröhliche an ihr schien für immer zerstört.
»Das Mädchen… Du bist – das Mädchen«, sagte Mrs Franklin jetzt. Ihre Stimme zitterte. »Die Tochter von Ruby. Du lieber Himmel…«
Liberty Bell schwieg und runzelte die Stirn. Ernesto warf ihr einen Seitenblick zu. Sie sah zart und zerbrechlich aus, eine Menge Zeitungen beschrieb sie so, praktisch ein labiles Porzellanfigürchen, aber das war sie in Wirklichkeit nicht. Ernesto wusste, dass da etwas anderes in ihr steckte. Laut und wild und wie ein gereiztes… Raubtier, vielleicht.
»Wollt ihr nicht hereinkommen?«, fuhr Mrs Franklin fort. Sie trat auffordernd einen Schritt zurück. Ernesto schluckte, während sie zum ersten Mal seit Jadens Tod das Haus betraten.
Wie oft waren sie hier gewesen? Zigmal. Zu Jadens Geburtstagsfeiern, zu vielen bunten Halloweenfesten und einfach so. Einfach so am meisten.
»Ich habe jede Zeile gelesen, die über dich geschrieben wurde«, fuhr Mrs Franklin fort und führte ihren Besuch ins Wohnzimmer. »Setzt euch doch.«
Ernestos Blick fiel auf eine Art Altar oder Schrein, den Mrs Franklin an der hinteren Wand errichtet hatte. Im Mittelpunkt stand eine große, gerahmte Fotografie, die Jaden am Tag seiner Konfirmation in der neuapostolischen Kirche von Wood Green zeigte. Darauf lächelte er sein typisches Jaden-Lächeln, ein bisschen großspurig und gleichzeitig verdammt unsicher. Dazu kam eine Menge weitere Aufnahmen, die an Jadens Leben erinnerten. Babybilder, Kleinkinderbilder, mit seinen Eltern, mit Otis und seiner Schwester, Aufnahmen während der Grundschulzeit bis hin zur – Gegenwart. An der Wand hing ein großes neuapostolisches Kreuz mit den üblichen, stilisierten Wellen und der neuapostolischen Sonne. Eine Menge Kerzen brannten. Im Raum stand warme, dumpfe Luft, als sei länger nicht gelüftet worden.
»Du – du bist ihr tatsächlich etwas ähnlich, Liberty«, sagte Mrs Franklin womöglich noch leiser, während sie Gläser und Seven up bereitstellte. Sie deutete auf ein weiteres, gerahmtes Bild. Es stand auf einer halbhohen Kommode und war die allseits bekannte, wenig ansehnliche Fotografie, die jeder Grundschüler von Old Town kannte.
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Mrs Franklin hastig und stolperte fast über ihre eigenen Worte, während sie nach dem Bild griff und mit ihrer Hand darüberfuhr, als wolle sie es von einer unsichtbaren Schicht Staub befreien. Oder streicheln. »Aber du täuschst dich. Ruby Kyriacou war ein sehr hübsches Mädchen, ehe sie – ich meine, bevor…«
Sie schwieg und schien plötzlich weit weg zu sein.
»Äh? Mrs Franklin? Ist – ist alles okay?«, murmelte Mose nach einer Weile und räusperte sich, weil die Stille immer bedrückender wurde.
Mrs Franklin zuckte zusammen. »Ent…entschuldigt… Ich – ich habe nur… nachgedacht«, sagte sie dann und erhob sich erneut. »Wartet einen Moment, bitte«, murmelte sie und verließ ohne weitere Erklärungen den Raum. Ernesto, Mose und Liberty Bell hörten, wie sie hastig die Treppe ins Obergeschoss hinaufstieg.
»Arme, alte Miss Peach«, sagte Mose seufzend und drehte dem Jaden-Schrein und damit dem lebendigen, lächelnden Jaden den Rücken zu, der für immer verschwunden war.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Mrs Franklin zurückkam.
»Ich habe nämlich – vielleicht einen Fehler gemacht«, sagte sie scheinbar zusammenhanglos und stellte eine Pappkiste auf den Couchtisch. »Man kann Schuld auf sich laden, müsst ihr wissen… Und Gott vergisst nie etwas…«
Ihre Stimme klang fahrig. »Seit – seit Jaden verunglückt ist, denke ich immerzu darüber nach. Über Ruby. Und über das, was sie mir vielleicht sagen wollte… Und über meinen Fehler, nicht genau genug – zugehört zu haben… – Vielleicht… vielleicht ist Jadens – Tod die Buße, die Gott mir auferlegt hat…« Wieder hielt sie inne. Dafür öffnete sie nun mit zittrigen Fingern den alten, zerbeulten Pappkarton. Er musste aus der Schule stammen, Ernesto erinnerte sich verschwommen an diese Art hellblauer Kartons, die in den Wandregalen der Grundschulklassen aufgereiht standen. Im Laufe des Schuljahres sammelten die Grundschüler darin ihre Zeichnungen und Texte, die im Kunstunterricht oder
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