Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
ehe sie verschwand, ein paarmal mit diesem kleinen Mann getroffen, Ronans Vater, Mr Horace…«
Er drehte seinen Rollstuhl und rollte zur Tür, aber Ernesto nahm es kaum wahr. Wie aus weiter Ferne spürte er Liberty Bells Hand in seiner.
Mr Horace! Natürlich! Er ging immer barfuß. Er war ein kleiner Mann mit nackten Füßen in einem grauen Maßanzug… Er hatte ein spitzes Gesicht mit dunklen, ziemlich engstehenden Augen und einer eigenartig vorspringenden Nase. Wie oft hatte Dara seine Späße darüber gemacht und Ronan damit zur Weißglut gebracht… Mr Horace hatte ein Raubtiergesicht! Ein Panthergesicht.
Warum war ihm das nicht viel früher aufgefallen? Ihn hatte Ruby Kyriacou gemalt, wieder und wieder! Er musste ihr Peiniger sein, ihr Vergewaltiger! Er war einer der einflussreichsten Männer in Old Town, das erklärte auch, warum sie sich niemandem anvertraut hatte. Sie war einfach davon ausgegangen, dass man ihr nicht glauben würde.
Er schloss die Augen. Aber wenn das stimmte, dann war Mr Horace auch Liberty Bells …Vater! Oh Gott! Warum war er darauf nicht schon eher gekommen?
Wenn er nur daran dachte, wie oft er bei der Familie Horace am Esstisch gesessen und mit Ronans Dad geflachst und gelacht hatte. Richtiggehend übel wurde ihm bei diesem Gedanken: Mr Horace’ Hände, die ihm die Schüssel gebackene Kartoffeln – oder was auch immer – gereicht hatten, waren dieselben Hände, die die zehnjährige Ruby Kyriacou in den Wäldern von Old Town geschändet hatten… Wieder und wieder!
Ernesto schwirrte der Kopf. Was sollte er jetzt tun? Seinem Vater hinterherlaufen und ihm von seinem Verdacht erzählen? Aber der musste…
Seine Mutter.
Langsam sickerte ein, was ihm sein Vater erzählt hatte. Seine Mom medikamentenabhängig. Ihre Abwesenheit. Ihre Launen. Es passte, verdammt, es passte alles wie die Faust aufs Auge. Und er hatte es nicht gesehen. Hatte es nie sehen wollen?
Er atmete tief ein und aus. Okay, was war jetzt wichtiger? Sein Dad würde sich um seine Mutter kümmern. Er musste in die Stadt, musste der Polizei von seinem Verdacht erzählen, musste…
Ein Geräusch ließ ihn innehalten.
Ein Stolpern, ein Stöhnen. Dann ein Flüstern.
»Nat?… Natasha?«
Es war die Stimme seiner Mutter. Sie klang kaum noch menschlich.
»Mom?«, rief Ernesto alarmiert, rannte aus der Tür und überholte seinen Vater im Flur.
Mrs Merrill war nicht mehr in ihrem Bett, stattdessen lag sie zusammengekrümmt auf dem hellen, glatten Marmorboden vor ihrem Zimmer, beide Arme wie schützend um ihren dünnen Körper geschlungen. Ihre Nase stach spitz aus ihrem eingefallenen gelblichen Gesicht hervor. Aber das war längst nicht das Schlimmste.
Es war das Blut. Das viele Blut.
»Verdammt, Mom! Was ist passiert?«, brüllte Ernesto, machte einen Satz, und beugte sich über seine leise schluchzende Mutter. Das Blut war überall. Es tropfte und rann von ihren Händen und war über ihrem gesamten Nachthemd verschmiert.
»Mom? Bist du verletzt? Was – was hast du nur getan? Bitte, sag doch etwas …!«
»Ern, lass mich durch«, sagte Dr. Merrill schneidend und rollte neben seine fast bewusstlose Frau. Er beugte sich über sie und griff nach ihrer Hand. »Sondra?«, flüsterte er.
»Dad, was ist mit ihr? Hat sie – hat sie sich etwas – angetan?«
»Ernesto. – Ernesto, sieh…« Liberty Bell keuchte laut auf vor Entsetzen und Schreck. Sie deutete auf die offen stehende Tür unmittelbar hinter Mrs Merrills Zimmer.
»Nat? Oh Nat! Nein!«, schrie Ernesto und sprang auf.
Das Zimmer der Haushälterin, das Dara vor einer halben Ewigkeit mal Polen getauft hatte, war voller Blut. Und in einer großen Blutlache nahe der Zimmertür lag unübersehbar und grotesk zusammengekrümmt Natasha Zlotsky mit schneeweißem Gesicht und weit aufgerissenen Augen. Um sie herum herrschte ein Riesendurcheinander aus zerbrochenen Einwegspritzen, zerknüllten Spritzenschachteln, zertretenen Tabletten, umherrollenden Einmalkanülen, Wattetupfern und anderem ärztlichem Zubehör. Es sah aus, als hätte eine Wahnsinnige gewütet. Nat? Oder seine Mom?
Ernesto stolperte und taumelte und rutschte fast aus auf dem vielen Blut, während er auf Natasha losstürmte wie ein Ertrinkender.
Er schluchzte auf, während er Natashas leblose, schlaffe Hand entsetzt zurück zur Erde gleiten ließ, hinein in das schmierige leuchtend rote Blut, das überall war. An beiden Handgelenken klafften tiefe Schnitte, nicht quer zur Hand, sondern längs. In
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