Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Frösteln dachte Ernesto an die vielen zertretenen Glasspritzen und Tablettenkapseln, an die überall zerstreut herumliegenden Spritzenkanülen. Hatte seine Mutter all das wirklich aus dem Tresor seines Vaters? Wie weit konnte solch eine Sucht überhaupt gehen?
Immer noch fröstelnd schaute er von seiner Mutter zu dem leeren Nachtisch und wieder zurück zu seiner kranken Mutter, die ihn mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck anstarrte. Zum ersten Mal seit langer Zeit – wenn nicht überhaupt zum ersten Mal in seinem Leben – sahen sie sich so intensiv an. Aber etwas war in ihrem Blick… Etwas war fremd. Unheimlich. Etwas, das seinen eigenen Blick bannte. Festhielt.
Was war das nur? Wollte sie ihm etwas mitteilen? Etwas sagen? War es das? Ja, da war etwas…
Lauft, sagten ihre Augen nämlich.
Ernesto zwang sich, ruhig zu bleiben, während er den Blick nicht von seiner Mutter wenden konnte.
Lauft!
»Liberty Bell«, sagte Ernesto schließlich leise. Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme merkwürdig gepresst klang. »Komm. Gehen wir – in mein Zimmer. Du hast es – gehört. Mein Vater – kümmert sich um alles…«
Seine Augen sagten auch etwas.
Wir müssen hier weg!, sagten sie.
Aber es war zu spät.
Oregon 1995
E r war unterwegs zum Santa-Clara-Steinbruch, mal wieder.
Warum nahm er sich kein anderes Mädchen? Dieses erfüllte seinen Zweck nicht mehr. Sie war nicht länger seine Elfe. Sie war nicht mehr zart, nicht mehr licht. Im Gegenteil. Sie roch schlecht, sie wusch sich nicht mehr. Sie war aufsässig geworden. Kurz, es machte keinen Spaß mehr, sie zu lieben. Sie zu nehmen. Aber bisher war er dennoch nicht losgekommen von ihr. Es war ihr Gesicht. Ihre hellen, immer etwas entrückten Augen. Und ihre weiche Haut, diese festen Wangen, dieses betörende Stück Haut zwischen Unterlippe und Kinn, das er so gerne küsste und das sich anfühlte wie ein Pfirsich. – Und dann ihre Liebe zur Natur, die seiner glich. Dennoch: In der letzten Zeit hatte sie ihm wenig Freude bereitet. Sie versteckte sich vor ihm. Sie machte sich unsichtbar in ihrem gemeinsamen Wald.
Er ging barfuß über weiches Moos, über warme rostrote Kieferntannennadeln, badete seine Zehen einen betörenden Moment im murmelnden Cedar Creek, der hier ganz in der Nähe seine Quelle hatte. Das Wasser perlte liebkosend zwischen seinen Zehen hindurch. Er atmete tief ein und aus und lockerte seinen Krawattenknoten.
Die Quelle, der Anfang – ja, er wollte einen neuen Anfang. In jeder Hinsicht. Seine Frau, die von Tag zu Tag widerspenstiger wurde, seit sie sein Baby erwartete, hatte in der letzten Zeit begonnen, ebenfalls im Wald spazieren zu gehen.
»Deine Liebe zur Natur ist eben ansteckend«, hatte sie gesagt und ihn herausfordernd angesehen, den schweren, gewölbten Bauch vorgestreckt.
Seine Fee… sie war ebenfalls kräftiger, stämmiger geworden in den vergangenen Monaten. Tief in sich drin, wusste er, warum. Aber er zwang sich, nicht daran zu denken. Nein, eine Fee wurde nicht – schwanger.
Zum Teufel, die Sache musste ein Ende haben.
Heute.
Heute wollte er sie zum letzten Mal besuchen, ihre vertraute Nähe suchen. Und dann…?
Ja, was dann?
Es gab natürlich eine Menge… Mädchen in der Stadt. Aber sie alle interessierten ihn nicht sonderlich. – Höchstens vielleicht die kleine Phoebe Meyerowitz. Sie war vierzehn, wie seine Fee. Und sie hatte einen schönen, schlanken Körper, und dazu langes nachtschwarzes Haar. Ja, das wäre etwas Neues… Das wäre einen – Versuch wert.
Aber Ruby sollte nicht traurig deswegen sein. Ruby, seine Sonne, sein Rubin, wie er sie manchmal nannte, wenn sie sich liebten. Er würde es ihr erklären. Sie trösten.
Da – da vorne war sie.
Er kniff prüfend die Augen zusammen. Sie kam ihm wieder schmaler, schlanker vor. Langsam schlich er auf sie zu.
Ein Sonnentag, ein wahrer Sonnentag.
Sie schaute ihm entgegen – etwas herausfordernd, vielleicht? Aber jedenfalls lief sie nicht fort wie so oft in der letzten Zeit.
Er spürte, wie wilde Erregung in ihm aufwallte.
Alles in ihm war in Aufruhr. Was sollte er mit der kleinen Phoebe Meyerowitz, diesem aufgeputzten Stadtmädchen?
»Ich will immer noch nur dich«, flüsterte er heiser und beruhigend. Nein, sie musste nicht bange sein. Sie hatte ihn nicht verloren. »Ich will dich besitzen, kleine Ruby. Besitzen. Besitzen. Besitzen.«
Eine Sekunde reihte sich an die nächste. Sekunden, in denen er sie umarmte, ihren Kopf in seinen
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