Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
auch einen besseren Zeitpunkt dafür gewünscht hätte…«
»Was, Dad?«, fuhr Ernesto dazwischen und tippte mit den Fingern auf den Laptop. »Sag endlich, was ist hier los? Warum geht es Mom so schlecht?«
Dr. Merrill seufzte tief auf und fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Eine Überdosis, Ernesto«, war seine knappe, aber unerbittliche Antwort.
»Eine Überdosis?«, wiederholte Ernesto und fühlte, wie er taumelte. »Was für eine Überdosis? Wovon?«
Dr. Merrill schüttelte den Kopf. »Ich dachte… nun, ich war davon ausgegangen, dass du es inzwischen selbst gemerkt hättest.«
»Was soll ich gemerkt haben?«
»Tja …«, Dr. Merrill spreizte seine Hände. »Deine Mutter ist – abhängig.«
»Abhängig?« Ernesto starrte seinen Vater an. »Sie ist…« Er brach ab, versuchte zu begreifen, was sein Vater da eben gesagt hatte.
»Seit Jahren. Vorwiegend von starken Beruhigungsmitteln.«
»Hast du ihr etwa…?«
»Natürlich nicht!« Sein Vater schnitt ihm das Wort ab. »Aber deine Mutter hat selbst immer wieder Mittel und Wege gefunden.« Jetzt konnte man sie sehen, die Verbitterung, die sich deutlich in seiner Miene eingegraben hatte. »Jedenfalls hatten Natasha und ich es einigermaßen unter Kontrolle. Aber in der letzten Zeit ist es schlimmer geworden. Und heute muss sie irgendwie an meinen Tresorschlüssel gekommen sein und damit an die Narkotika.« Für eine Sekunde spiegelten sich Emotionen in Dr. Merrills Gesicht, was so gut wie nie vorkam. Hilflosigkeit und Trauer, echte Trauer.
Ernestos Blick glitt zu dem flimmernden Bildschirm vor sich.
Fentanyl… Atemdepression, verlangsamte Herztätigkeit, Übelkeit, Erbrechen…
»In diesem Moment stolperte Natasha zur Tür herein.
»Nein! Nein! Dr. Merrill! Nicht! Was… zu viel ist… Nein, nein, nein…«
Ihr Blick war wirr und ihre roten Haare, die Dara so sexy fand, obwohl sie schon auf die fünfzig zuging, standen ihr zerwühlt um den Kopf. Ein letzter Haarkamm baumelte losgelöst ein Stück hinter ihrem linken Ohr in einer filzig ineinander verwickelten Haarsträhne. Sie schien es nicht einmal zu bemerken.
»Natasha?«, stotterte Ernesto.
»Ern. – Ernesto. – Mein lieber Junge. – Mein guter Junge. Es… es… es ist nur …«, flüsterte Natasha zurück und leckte sich über die trockenen Lippen. Es sah so aus, als suche sie nach Worten, aber Dr. Merrill kam ihr zuvor.
»Natasha, beruhige dich. Bitte«, sagte er leise und besänftigend. Sein Blick tauchte in ihren. »Alles. Wird. Gut. Das habe ich dir doch versprochen, oder? – Und denk an – deinen Jungen in Polen. Denk. An. Bartosz. Nat! Reiß dich – bitte - zusammen.«
Die Haushälterin zuckte bei diesen eindringlichen Worten zusammen und erstarrte. Vor dem Fenster flog ein Schwarm Oregon-Junkos vorüber, Ernestos Lieblingsvögel aus Kindertagen.
»Verdammt, Nat, warum hast du mir nie gesagt, dass – dass Mom so… krank ist?…«, fragte er leise in die Stille hinein, die den Worten seines Vaters gefolgt war.
Liberty Bell war aufgestanden. Verstand sie, was sein Vater gesagt hatte? Verstand sie, dass seine Mutter sich mit Drogen vollgepumpt hatte, ganz wie Annie Lynford früher? Die Vögel verschwanden unterdessen in der Ferne wie eine dunkle Wolke.
»Ich… ich wusste ja nicht… ich wusste nicht, wie …«, stammelte Natasha, schlug ein Kreuz und fing leise und in polnischer Sprache an zu beten.
»Ern, vielleicht sollte deine – kleine Freundin… an einem anderen, einem besseren Tag wiederkommen«, sagte Dr. Merrill jetzt und machte Anstalten, hinter Natasha herzurollen, die davoneilte, wahrscheinlich um nach Mrs Merrill zu schauen. Dabei fiel sein Blick auf den offen dastehenden Karton mit Ruby Kyriacous Schulbildern.
»Was… was ist denn das?«, fragte er und hielt mitten in der Bewegung inne. Seine dünnen Finger, die so wahnsinnig erfolgreich operieren konnten, schwebten für einen Moment unbeweglich über den schmalen Gummireifen seines Rollstuhls.
»Das sind nur… Rubys Sachen«, murmelte Ernesto zerstreut. »Mrs Franklin hat sie uns gegeben, weil sie fand, Liberty Bell sollte sie haben.«
Dr. Merrill betrachtete das zuoberst liegende Bild. Es war das mit dem barfüßigen Mann mit dem Pantherkopf und den ausgestreckten Armen.
»Du lieber Himmel…«, seufzte er und verzog das Gesicht. Seine Stimme klang betroffen und er legte die Zeichnung behutsam wieder an ihren Platz. »Das arme Mädchen. Ein Kind aus schwierigen Verhältnissen. Ich habe sie damals,
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